Jahreslosung (01. Januar 2026)

Autorin / Autor:
Landesbischof Ernst Wilhelm Gohl, Stuttgart [landesbischof@elk-wue.de]

Offenbarung 21,5

Wir leben in ungeheuerlichen Zeiten. Nachrichtensendungen lassen heute manchen apokalyptischen Film langweilig aussehen. Was mit dem Klima geschieht und in der Weltpolitik, welche Kräfte auch bei uns er-starken und unser Miteinander bedrohen, das kann Angst machen. Mitten hinein in diese Zeit spricht uns Gottes Wort aus dem Buch der Offenbarung an. Gott spricht: „Siehe, ich mache alles neu.“

Apokalypse: Das Original
Die Johannesoffenbarung ist das letzte Buch der Bibel. Sie ist Schluss und Zielpunkt des christlichen Kanons. Ihr Originalname, ihr griechischer Titel hat aller Apokalyptik den Namen gegeben: Apokalypsis Ioannou – die Offenbarung des Johannes. Johannes verfasste sein Werk auf der Insel Patmos. Dorthin war er übers Mittelmeer geflüchtet, aus dem Heiligen Land. Er hatte fliehen müssen, weil er sich zu Christus bekannte.
Wenn wir heute etwas als „apokalyptisch“ bezeichnen, klingt das fast immer negativ. Da geht es um bedrohliche Schreckensszenarien, um Weltuntergangsbilder. Denn im alltäglichen Sprachgebrauch fehlt die Hoffnung.
Anders im Original. Zwar spricht auch die Johannesapokalypse mit starken Bildern von Schrecken und vom Ende. Doch bei dem, was Johannes in seinem Exil schaut und niederschreibt, sind die Vorzeichen umgekehrt: Es geht um das Gericht über die unheilvollen Mächte. Es geht um die Hoffnung auf Gottes Zukunft. Eine Zukunft, in der die Herrschaft dieser Mächte beendet ist – für immer! Apokalypse ist Krisenliteratur, Seelsorge für bedrängte Menschen. Sie greift deren und unsere Not auf und stellt sie unter den Hoffnungs-bogen Gottes.

Ermutigung in Krisenzeit
Siehe! – Dieser Aufruf erging zuerst an Johannes auf Patmos und mit ihm an die Christinnen und Christen seiner Zeit, die sich vom römischen Imperator bedroht sahen. Durch die Jahrhunderte hindurch haben die Worte der Johannesoffenbarung dann immer wieder Menschen angesprochen, die Bedrohungen ausgesetzt waren. So auch diejenigen, die sich vor 500 Jahren der reformatorischen Bewegung anschlossen. Sie sahen sich nicht nur durch Acht und Bann bedroht, auch darüber hinaus lebten sie in einer von Krisen geprägten Zeit: Soziale Not, Krieg und Pest herrschten in Europa. Doch sie orientierten sich an Gottes Wort und gestalten Kirche neu.
Siehe! – Die Worte der Offenbarung rufen uns dazu auf, uns nicht bannen zu lassen von allem, was uns heute bedrängt. Sondern unseren Blick weiten zu lassen auf Gottes Zukunft hin. So gewinnen wir eine weitere Perspektive auf die Gegenwart, gleichsam einen Blick von der Zukunft her. Dieser Blick ermutigt, voran-zugehen und die Welt an unserem Ort zuversichtlich zu gestalten. Gerade in der Krise. Ein Vorbild ist der Autor Johannes selbst. Angesichts der Ungeheuerlichkeiten seiner Zeit erstarrt er nicht, sondern wird kreativ. Im Geist Gottes produktiv, um für andere die Hoffnung stark zu machen.

Das A und das O
Das A und das O – dieser Ausdruck ist sprichwörtlich. Wenn wir vom A und O sprechen, dann meinen wir das Entscheidende: „Das ist hier das A und O“. Auch dieser Ausdruck kommt aus der Offenbarung des Johannes; er steht im direkten Anschluss an den Vers der Jahreslosung. „Ich bin das A und das O“, spricht Gott. Der, dessen Wort uns als Losung durchs Jahr begleitet, ist das Entscheidende – für uns und für die Welt.
Das A und das O, das sind der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets, Alpha und Omega. Im Hören auf Gottes Wort, im Schauen auf Gott geht es um das Erste und Letzte. Johannes verdeutlicht dies kunstvoll in der Komposition seines Werkes: „Ich bin das A und das O“ – dieses Gotteswort rahmt die ganze Offenbarung. Es erklingt gleich zu Beginn, im ersten Kapitel (Offb 1,8), und dann wieder hier, gegen Ende (Offb 21,6). Gott als Anfang und Ende, als Ursprung und Ziel allen Lebens, das ist der Bogen, der sich über alles spannt.
A und O: Die Zukunft verbindet sich mit der Vergangenheit – und überspannt so die Gegenwart. Wenn Gott verheißt „ich mache“, so klingt hier das Schöpfungshandeln vom Anbeginn an. Was im Deutschen verschieden klingt, ist im Griechischen das Gleiche: Gottes „Machen“ ist Gottes „Erschaffen“ (poiein). So spannt die Jahreslosung einen Bogen von der Schöpfung hin zur Neuschöpfung, die uns und der Welt verheißen ist.

Das ist das Ende!
Im Anfang machte Gottes Wort der Finsternis ein Ende: „Es werde Licht!“ Und es ward Licht (1Mose 1,3). Gott schuf den lebensfreundlichen Wechsel von Abend und Morgen. Von diesem Anfang spannt die Jahreslosung den Bogen hin zum neuen Ende. Sie stellt uns ein Ende aller lebensfeindlichen Kräfte vor Augen. In der Bildsprache der Offenbarung: Das Lamm besiegt alle Ungeheuer und bestialischen Mächte dieser Welt.
Das ist das Ende. Das Ende des Todes und seiner Herrschaft. Und wo der Tod entmachtet ist, da hat auch alle Not ein Ende: Der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen (Offb 21,4). Die Jahreslosung folgt direkt auf diese Verheißung, fasst sie zusammen und bekräftigt sie. Gott selbst gibt sich uns zum Bürgen.
„Siehe, ich mache alles neu!“ Diese Worte eröffnen den Ausblick auf das Ende aller Not. Doch wann ist es endlich so weit? Immer wieder haben Menschen versucht, das auszurechnen und zeitlich zu bestimmen. Aber Gott macht sich nicht berechenbar, Gott ist treu. Darum geht es. Dass wir Gott vertrauen – auch wider allen Augenschein. Und dass wir im Vertrauen wahrnehmen, wie aller Not und allen Ungeheuerlichkeiten schon ihr Ende gesetzt ist.
Die Offenbarung schenkt uns hier ein zärtliches Bild: Gott wird abwischen alle Tränen (Offb 21,4). Dieses Bild verbindet sich mit der Jahreslosung. Wo sich unser Herz diesem Bild öffnet, da fließt uns sein Trost schon heute zu.

Alles neu: Hoffnungsbilder
Aus dem Vertrauen wächst Hoffnung. Als Menschen, die Gottes Wort anspricht, hoffen wir nicht auf irgendetwas, sondern auf Gott selbst. Auf die Macht des Lebens, die erschafft, erlöst und inspiriert. Johannes teilt mit uns die Hoffnungsbilder, die er in der Schau empfangen hat. Bilder des Lebens. Sie verbinden sich mit der Jahreslosung durch den Begriff des Neuen; drei Mal heißt es hier „neu“: Neuer Himmel und neue Erde, das neue Jerusalem (vgl. Offb 21,1f.).
Mit Himmel und Erde spannt die Offenbarung den Bogen zum Anfang, zum ersten Satz der Bibel: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde (1Mose 1,1). Es geht um nichts weniger als einen radikalen Neuanfang. Und es geht wie am Anfang um den ganzen Kosmos, dessen Elemente lebensfreundlich einander zugeordnet sind: Vom All und der Erdatmosphäre bis zur Tiefsee; Flüsse und Äcker, Wiesen und Wälder, Sonne und Mond, Vögel und Fische sind dabei, die zahmen und die wilden Tiere – und die Menschen.
Für ein erneutes Miteinander von uns Menschen steht das Bild des neuen Jerusalem. Eine Stadt, in der es sich himmlisch lebt – Gott lässt sie „vom Himmel herabkommen“. Ein Gemeinwesen, in dem Gerechtigkeit und Friede sich küssen (vgl. Ps 85,11), wo der Geist des Lebens das Miteinander bestimmt. Denn Gott selbst wird bei uns wohnen (vgl. Offb 21,3).
Die beiden Bilder, das kosmische und das soziale, sind eher Rahmen oder Konturskizzen als ausgeführte Bilder. Was Johannes aus Gottes Zukunft schaut, ist keine Karte des neuen Kosmos und kein Plan eines neuen Gemeinwesens. Die Verheißung ist von uns nicht auszumessen. Sie ist im Vertrauen zu ergreifen und mit Hoffnung zu füllen.

Hoffnung ist keine Illusion
Aber ist das alles nicht Illusion? Bilder, die uns etwas vorgaukeln, um uns zu beruhigen? Und was unter-scheidet eigentlich die Illusion von der Hoffnung?
Wohl dies: Die Illusion verkennt die Wirklichkeit. Sie biegt die Wirklichkeit so zurecht, wie man sie sich wünscht. Zauberkünstler arbeiten mit Illusionen. Aber auch Populisten. Sie sind gerade deshalb so gefährlich, weil sie mit der Illusion arbeiten. Sie verschleiern und verdrehen die Wirklichkeit – alternative Fakten heißt das dann heute.
Anders die Hoffnung. Sie verdreht die Wirklichkeit nicht. Umgekehrt: Sie hilft gerade, die Wirklichkeit zu er-kennen. Hoffnung hebt den Schleier der Angst und weitet die Perspektive. Wer hofft, schätzt die Wirklichkeit klarer ein als ein Mensch ohne Hoffnung. Denn vor dem Hintergrund der Zukunft Gottes erscheinen die Konturen der Gegenwart umso klarer.

Hoffnung statt Zukunftsangst
Hoffnung ist ein gutes Mittel gegen Angst. Und Angst kennen wir alle. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum versucht, der Angst auf den Grund zu gehen. Sie sieht in ihr einen Grundstoff des Menschseins. Angst, sagt sie, ist das erste Gefühl, das wir im Leben kennenlernen. Angst vor Hunger. Angst vor Liebesentzug. Angst vor dem Tod. Und die Angst bleibt ein Leben lang im Untergrund unserer Gefühle präsent. Ganz los werden wir sie nie.
Die Frage der Angst hat auch eine gesellschaftliche Dimension. Wenn vielen Menschen die Angst näher ist als Gott, dann wird irgendwann die Angst zur Grundmelodie unserer Gesellschaft. Nussbaum sammelt Beobachtungen unserer Zeit, die Grund zur Sorge sein können: Ausgrenzung von Minderheiten. Zerstörung aus Wut. Leugnung von Fakten. Hass, der zur Gewalt führt. All dies höhlt eine demokratische Gesellschaft nach und nach aus. Für ein faires, demokratisches Miteinander, so Nussbaum, braucht es stattdessen dies: Liebe zum Guten. Hoffnung auf die Zukunft. Entschlossenheit, die zerstörerischen Kräfte des Hasses zu bekämpfen – die allesamt durch die Angst genährt werden.
Die Jahreslosung ruft uns aus der Angst heraus. Sie lenkt unseren Blick auf Gott und auf den Bogen, den Gottes Zusage weit über unser Leben spannt: „Siehe, ich mache alles neu!“ In Gottes Verheißung haben wir Zukunft. Aus Gottes Verheißung wächst Hoffnung, die uns aus der Angststarre löst. Denn die Mächte dieser Welt, die uns und das Leben bedrohen, sie haben keine Zukunft. Diese Hoffnung macht die Seele frisch und frei. Mit dieser Melodie im Herzen wagen wir es getrost, uns schon heute stark zu machen für das Leben.

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