Jubilate (22. April 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Jörg Bauer, Stuttgart [jo.bauer@klinikum-stuttgart.de]

2. Korinther 4, 16-18

Liebe Gemeinde,
das ist Paulus. Er, der innerhalb von nur wenigen Jahren in einem unglaublichen Tempo fast das ganze Römische Reich bereist hat, um möglichst vielen Menschen von Jesus aus Nazareth zu erzählen, um für ihn zu werben – jetzt ist er in die Jahre gekommen. Er ist müde geworden. Seine Gesundheit: ruiniert. Burn-out. Er hat sich aufgerieben mit der unerhörten Nachricht von dem Menschen Jesus, der am Kreuz gestorben ist, den der Tod aber nicht festhalten konnte.

Auferstanden „am dritten Tag“, am Ostermorgen. Ostern, davon war Paulus und waren all die anderen, die mit Jesus Christus zu tun hatten, überzeugt, hat alles verändert, zum Guten: Den Toten lebendig gemacht und deshalb die Schwachen stark, die Armen reich und diejenigen, die keine Hoffnung mehr hatten, mit neuer Hoffnung berührt. Mit Hoffnung, die selbst dem Tod standhält…

Und jetzt? Gut ausgesehen hat Paulus ja noch nie, doch jetzt kommt der Verfall hinzu, der äußere, der körperliche, so wie bei jedem anderen Menschen auch.

Das sind wir: Christenmenschen, geborgen und gehalten. Aber Vorsicht: leicht zerbrechlich!Liebe Gemeinde, das sind wir: Jeder und jede einzelne von uns Mitglied der christlichen Gemeinde. Wir wurden getauft auf den Namen des dreieinigen Gottes – und dann, im Lauf unseres Lebens ging uns auf, welche Dimensionen sich für uns öffnen. Wir müssen vom allerersten Anfang an nicht für unser Leben geradestehen, weil Gott Ja zu uns gesagt hat, noch bevor wir irgendetwas für ihn tun konnten: „Fürchte dich nicht!“ Und wir erfuhren in der Tat so manches Mal, dass Gott Wirklichkeit ist, dass er in diesem Jesus von Nazareth am Karfreitag und am Ostermorgen wirklich alles gut gemacht hat mit uns, mit dieser Welt. Ja, das sind wir. Christenmenschen, Menschen, die Grund und Halt ihres Lebens nicht in sich finden, sondern in Gott, der sie gefunden hat.

Und doch leben wir nicht im Paradies, sondern in unserem Alltag mit seinen Problemen, die uns manchmal schwer zu schaffen machen, die uns aufreiben, zerreiben. Bis nichts mehr da ist? Eine Krankheit, ein Unfall – und die „Brüder und Schwestern im Herrn“ sind auch nicht nur nett. Pläne und Ziele, die wir mit der Hilfe Gottes gerne erreicht hätten: Manchmal, oft: Nichts von alledem, was wir uns wünschen, tritt ein, nur Wüste. Und am Ende: Der Verfall, der äußere, der körperliche, wie bei jedem x-beliebigen Menschen auch. Das sind wir.
So leben wir. Manchmal: eher schlecht als recht.

Oder – auch das sind wir: eine Kirchengemeinde plant Neues, baut ein großes Gebäude, ein Kinderhaus, möchte ein Familienzentrum etablieren. Beste Absichten aus dem Geist des Evangeliums. Alle, durch die Bank alle, gaben und geben dabei ihr Bestes. Und trotzdem gelingt nicht alles so, wie von Gott erbeten und persönlich gewünscht. Da drohen Menschen in der Mühle des Alltags zermahlen zu werden – und man kann so wenig dagegen tun.

Enttäuschung macht sich breit, bei der Kirchengemeinde und bei denen, für die das Familienzentrum Herzenssache war und ist. Enttäuschung vielleicht auch gerade deshalb, weil nicht nur die Welt Erfolgsgeschichten sehen und hören will, sondern auch wir, die Christen. Seien wir ehrlich. Volle Kirchen, jeden Sonntag, viele ehrenamtlich Mitarbeitende, da ist was los. Und jedefrau sagt: Was für eine tolle Kirchengemeinde! Da möchte ich unbedingt dabei sein, da will ich mitmachen, da fühle ich mich wohl. Wäre das nicht schön?

Viele Menschen arbeiten in den Kirchengemeinden für diese Vision. Ehrenamtliche. Hauptamtliche. Mit Feuereifer. Doch die Realität sieht leider oft anders aus. Es kommt anders. Alles wird und wirkt dann irgendwie bescheidener, mickriger. Volle Kirchen? Ja, das auch, aber nicht jeden Sonntag. Das Familienzentrum lebt und hat Erfolge zu verbuchen? Ja, aber vielleicht nicht so, wie sich das alle gewünscht haben.
Gott ist eben nicht immer verfügbar, um dem kirchlichen Leben das Siegel des Erfolgs aufzudrücken. Manches zerfällt auch wieder. „…Wenn auch unser äußerer Mensch zerfällt…“ Vorsicht: Leicht zerbrechlich! Auch das ist Paulus. Paulus, der Realist, der nichts beschönigt, auch den Misserfolg nicht.

Wer alles zusammenhält: der innere, der Gottesmensch. GottEr aber – und das finde ich jetzt wirklich bemerkenswert – verfällt nicht in eine allgemeine Jammerei nach der Melodie: Früher war alles besser…
Er sagt stattdessen geheimnisvoll: „Wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“
Was ist das? Ein Ratespiel? Ist das das Rezept, um nicht in allgemeines Weinen und Klagen zu verfallen? Wie geht das?

Der innere Mensch? Ist das meine, wie auch immer geartete Seele, oder ist das jetzt die berühmt-berüchtigte Reise zur eigenen Mitte? Muss man die erst erspüren, aufsuchen und anzapfen – und alles wird gut? Aber wir wissen ja, dass das – frei nach Karl Valentin - bekanntlich gar nicht so einfach ist:
„Neulich wollte ich mich besuchen, aber der Weg war mir zu weit!“

Der innere Mensch. Das ist ganz einfach. Einfach schön. Das sind ja wir, liebe Gemeinde, in unserer Existenz als Christen. Das ist: unser Vertrauen, das wir nicht machen können; es kommt von oben, vom Unsichtbaren, von Gott her in unser Leben. Das bin ich in einer Wirklichkeit, die ich nicht anders habe, als indem sie mir zugesprochen wird, täglich neu von Gott: Fürchte dich nicht! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Dazu sagt Jesus Christus am Ostermorgen Ja und Amen.

Das ist meine andere, die außerirdisch-himmlische Wirklichkeit, die mich, die uns ergriffen hat und umfängt, von der Taufe an. Sie zerfällt und verfällt nicht, weil Gottes Ewigkeit sie nährt.
Die Ewigkeit. Nicht du, Mensch. Nicht wir Menschen müssen da was machen. Gott macht. Fürchtet euch nicht.

Freilich, ja doch: Wir haben diesen Schatz nicht konzentriert und glasklar im Kristallpokal, jederzeit verfügbar, verwendbar, sondern nur – wie Paulus an anderer Stelle einmal sagt: in recht unansehnlichen, irdischen Gefäßen. Im äußeren Menschen, in unserem Körper, in diesem Menschenleben mit all seinen Widersprüchen und Rätseln – und Gott ist nicht jederzeit verfügbar. Dann der Verfall, dann der Tod.

Da ist Spannung drin, im Christenleben. Wirklich. Manchmal: fast unerträgliche Spannung. Kaum auszuhalten. Ja. Wer etwas anderes sagt, lügt.
Eine Spannung, die uns jedoch nicht zerreißen wird, weil wir eine Adresse haben, an die wir uns wenden können. Das hat wohl niemand genialer beschrieben als der heilige Augustinus in seinen Bekenntnissen, die sich bei näherem Hinsehen einzig dieser christlichen Spannung verdanken: Da hebt ein Mensch das eigene Versagen, die Leiden, die Schuld, die Angst, seinen körperlichen Verfall im Gebet in den Blick Gottes – und da wird meine Wahrnehmung schon jetzt, hier, zurecht gerückt: Das Große wird auf einmal klein, schuldig wird rein, der Müde munter, Unscheinbares verwandelt sich in Herrlichkeit – und Verfallendes erhält den Hauch der Beständigkeit.

Das geschieht um Gottes Willen zuweilen auch bei uns, in unserem Leben und in der Kirche. Nicht ständig, immer. Aber es geschieht.
Da leuchtet der innere Mensch auf, der Gottesmensch, auch wenn der äußere zerrieben wird, versagt, verfällt und schließlich zerfällt.

Das sind, liebe Gemeinde, die beiden Pole des Christseins, oft bedrücktes und doch zugleich befreit-geborgenes Leben über den Tod hinaus. Unsicherheit, ganz vorsichtiges Tasten nur und dann wieder: festen Boden unter den Füßen.
Ein unverschämtes Vertrauen – ich weiß nicht wie und warum –, und doch ist es da. Zwischen diesen beiden Polen leben wir. Leider.
Solange, bis wir in der anderen, der Osterwelt Gottes ganz zu Hause sein werden. Sie ist es, die uns nicht verzweifeln lässt an uns selbst und an dieser Welt, sondern immer wieder hoffen, manchmal auch wissen lässt:
Es geht gut aus. Sie hält uns am Leben, lebendig.
Den inneren Menschen, mich, uns – in Ewigkeit.
Amen.

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