Jubilate (30. April 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]

Johannes 16,16-23

IntentionDie Predigt stärkt die Gewissheit, dass Christus ein Auge hat auf die Seinen. Er sieht uns.

16,16 Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen. 17 Da sprachen einige seiner Jünger untereinander: Was bedeutet das, was er zu uns sagt: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen; und: Ich gehe zum Vater? 18 Da sprachen sie: Was bedeutet das, was er sagt: Noch eine kleine Weile? Wir wissen nicht, was er redet.19 Da merkte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Danach fragt ihr euch untereinander, dass ich gesagt habe: Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen? 20 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden. 21 Eine Frau, wenn sie gebiert, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. 22 Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. 23 Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen.

Liebe Gemeinde,
Sie alle erleben Abschiede und freudiges Wiedersehen. Manche Abschiede sind wir gewohnt. Beim täglichen Weggehen zur Arbeit. Große Gefühle kommen dabei nicht mehr auf. Die Wiedersehensfreude beim Heimkommen ist trotzdem da: „Schön, dass du wieder heimkommst.“
Kinder müssen erst lernen, dass dem täglichen Abschied in den Kindergarten oder in die Grundschule ein Wiedersehen folgt. Manche können die Tränen noch nicht zurückhalten, weil sie das, wohin sie gehen, noch nicht wirklich kennen. Es ist ihnen noch fremd und etwas unheimlich. Oder weil die Mutter oder der große Bruder nicht dabei sein können. Umso größer und ausgelassener ist die Freude beim Wieder-nach-Hause-Kommen.
Und auch als Erwachsene erleben wir immer wieder Abschiede, die uns rühren. Der Mensch, mit dem wir Tag für Tag unser Leben teilen, tritt eine große Reise an, mit dem Flugzeug. Er wird Tage oder Wochen weit weg sein. Da können bei der Abfahrt zum Flughafen schon ein paar Tränen kommen und der Gedanke: „Es wird doch alles gut gehen. Hoffentlich passiert nichts.“ Und wie wunderschön ist es bei der Rückkehr. Freudiges Zuwinken von weitem schon. Umarmungen. Freude pur. Es soll Menschen geben, die nur wegfahren, weil das Heimkommen und Wiedersehen so schön ist.
Und wir erleben Abschiede, denen kein Wiedersehen folgen wird. Nur noch eine kurze Zeit können wir zusammen sein. Eine kleine Weile. Große Traurigkeit erfüllt uns, wenn wir sehen, dass ein geliebter Mensch für immer geht. Und auch die Angst davor steigt auf, wie das eigene Leben sein wird, wenn der geliebte Mensch gegangen ist und nie mehr wiederkommen wird.
Im Verstand können wir umgehen mit Abschied. Unsere Gefühle brauchen Zeit, manchmal sehr lange Zeit.

Eine kleine Weile nochNun haben wir gehört: Jesus sagte seinen Jüngern zwei Sätze zu Abschied und Wiedersehen. Und sie konnten sie mit ihrem Verstand nicht fassen. Was redet er da, fragten sie einander. Wir wissen nicht, was das bedeutet:
„Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen;
und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen.“

Wollte er sie etwas trösten mit dieser Aussicht auf ein Wiedersehen? Doch sie konnten mit Trost noch gar nichts anfangen. Da war kein Erschrecken und kein Entsetzen zu sehen. Da war kein Heulen und Wehklagen zu hören. Sie waren noch ganz damit beschäftigt, was er da so Rätselhaftes gesagt hatte. Ein großes Palaver war am Tisch. Alle redeten durcheinander: Was will er denn damit sagen?
Jesus hört sich das eine Zeitlang schweigend an. Und dann erhebt er seine Stimme und klärt das Durcheinander: Ihr werdet heulen und jammern und klagen – während die Welt um euch herum sich freut. Ja, ihr werdet tieftraurig sein. Aber ganz bestimmt wird sich eure Traurigkeit in Freude verwandeln. Es wird eine unbeschreibliche Freude sein. Niemand wird sie euch zerstören können. Sie wird tief in eurem Herzen wurzeln. Denn ich werde euch wiedersehen und ihr werdet mich wiedersehen. Und dann braucht ihr mich nichts mehr fragen. Ihr werdet nicht mehr sagen: Was redest du? Es wird einfach alles klar sein. Ihr werdet nur noch strahlen vor Freude. Eine kleine Weile wird euch die Traurigkeit gefangen nehmen, bis euch Freude erfüllt.
Jesus redet die Freude, die kommt, ganz groß. Er lässt die Trauer dagegen klein erscheinen.

Da verstummte das Hin und Her und Durcheinanderfragen. Obwohl doch jetzt erst recht Grund genug da war, zu fragen: Wie soll das zugehen?

Ich will euch wiedersehenBekommen wir Spätgeborenen auch etwas ab von jenem Versprechen: Ihr werdet mich wiedersehen?
Wir haben ihn ja nicht so gesehen wie seine Jünger nach dem Ostermorgen. Wir haben ihn nicht berührt. Wir haben seine Stimme nicht gehört, als er am Ufer stand und rief: „Kinder, habt ihr nichts zu essen?“ Also wenn wir ihn sehen, dann wird es nicht wirklich ein Wiedersehen sein.
Zwar haben wir Bilder von ihm im Kopf. Wir haben sie gesehen in unseren Kinderbibeln oder wir sehen sie auf Fresken in alten Kirchen oder auf Ikonen. Und wir glauben, ihn ein bisschen zu kennen, weil wir vielleicht unser Leben lang mit seinen Gedanken und seinen Worten umgehen. Manche können wir auswendig sagen. Aber würden wir ihn erkennen?

Versprochen ist es, dass wir ihn sehen. Doch es wird überraschend anders sein. Am Ende sagt er: „Auch ihr habt nun Traurigkeit. Aber ich will euch wiedersehen. Und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.“
Ist das nicht wunderbar? Es gibt in unser aller Leben Abschnitte, in denen wir tieftraurig sind und uns verloren und von aller Welt vergessen vorkommen. Verlassen und unglücklich, weil uns nichts mehr gelingt und wir mit nichts unsere Lebensfreude wieder herbeischaffen können.
Er aber sagt: „Ich will euch wiedersehen!“

Werden wir ihn erkennen?Wenn das geschehen würde, dann wären wir zunächst einmal völlig durcheinander. Das Wiedersehen würde uns irritieren, wie es den Jüngern nach Ostern geschah.
Sie kennen das vielleicht. Sie sind irgendwo unterwegs. Und plötzlich sehen sie einen Menschen vor sich, von dem Sie denken: Den kenn ich doch? Aber woher und wer ist es? Es will Ihnen nicht einfallen.
Das Rätsel liegt darin, dass Sie den Menschen an einem ganz anderen Ort und in einem ganz anderen Zusammenhang erlebt haben. Nie hätten Sie ihn hier erwartet: Den Postboten auf einem Wanderparkplatz im Allgäu. Die Krankenschwester bei einem Konzert. Den früheren Kollegen, den Sie seit Jahrzehnten aus Ihrem Gesichtskreis verloren haben, im Freibad.
Es braucht eine ganze Weile, bis Sie aus Ihrem Gedächtnis die Erinnerungen und Zusammenhänge wieder zusammengekramt haben und Sie sagen können: „Ich hätte Sie gar nicht wiedererkannt.“

Du siehst michMit so etwas müssen wir rechnen, wenn Jesus sein Versprechen einlöst. Also dass wir ihn verwechseln und gar nicht erkennen, so wie Maria Magdalena den Gärtner ansprach, als Jesus vor ihr stand.
Wenn es ein Wiedersehen gibt, dann sicher nicht in der Gestalt, die wir uns vorstellen. Also nicht so, wie Jesus in Kinderbibeln gemalt ist oder auf Fresken in alten Kirchen.

Das Wiedersehen geht ganz und allein von ihm aus. Er will es. Und er wird es zuwege bringen, wann und wo und wie es ihm gefällt.
Er sieht uns. Er sieht uns, wenn wir in tiefer Traurigkeit sind und der Verzweiflung nahe. Er sieht uns, wenn uns die Angst überwältigt angesichts der Macht des Bösen, das die Welt gerade beherrscht und uns alle Hoffnung nimmt.

Er sieht uns, wenn wir uns ein Herz fassen, und uns über einen Menschen, der im Elend ist, erbarmen.
Vielleicht nehmen wir seinen Blick nicht wahr und sehen ihn nicht, wenn er uns ansieht. Doch er hat Geduld mit unserem langsamen Erkennen. Und wenn uns dann endlich die Augen geöffnet sind, wird die Freude überwältigend sein. Er sieht uns.
Amen.


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