Judica / 5. Sonntag der Passionszeit (03. April 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Gertraude Kühnle-Hahn, Stuttgart [Gertraude.Kuehnle-Hahn@elk-wue.de]

Markus 10, 35-45

IntentionIch möchte ein Brücke schlagen vom Wunsch der beiden Jünger, einen besonderen Platz einzunehmen und hervorgehoben zu sein, zu Erfahrungen im aktuellen Gemeindeleben. Auch da findet sich gerade unter den engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nicht selten der Wunsch, einen wichtigen Platz einzunehmen. Die Predigt soll ausführen, wie Jesus diesem Wunsch begegnet.

10, 35 Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen zu ihm: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden. 36 Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? 37 Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. 38 Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? 39 Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde; 40 zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das zu geben steht mir nicht zu, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. 41 Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. 42 Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. 43 Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; 44 und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. 45 Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.

Liebe Gemeinde,
kennen Sie den Wunsch, anerkannt zu sein? Den Wunsch, gesehen zu werden, zu spüren, ich bin wichtig? Ich vermute, kaum jemand ist von solchen Wünschen frei. Nur: offen geäußert werden sie selten. Sie sind eher in Erwartungen verpackt, dass andere doch sehen und hervorheben sollten, was man alles tut und wofür man sich einsetzt. Man will sich nach außen nicht so wichtig nehmen und doch wichtig sein.
In der Geschichte aus dem Markusevangelium wagen es zwei Jünger, das auszusprechen, was die anderen auch bewegt, was sie aber nicht offen zugeben konnten oder wollten.
Jakobus und Johannes wollen ganz nah bei Jesus sein. Sie wollen teilhaben an seiner Macht. Es geht ihnen hier nicht um materielle Vorteile. Sie haben begriffen, so meinen sie, was Jesus will und wofür er lebt. Sie wollen seine Diener sein und bleiben, aber sie wollen seine besten und nächsten Diener sein. Sie wollen wichtig sein, wichtiger als die anderen Jünger. Sie sagen Jesus das allerdings etwas auf Umwegen, ziemlich „verdruckst“, schwäbisch gesagt. „Meister, wir wollen, dass du für uns tust, was wir dich bitten werden.“
Jesus sorgt für Klarheit: „Was wollt ihr, dass ich euch tue?“ Und dann kommt es heraus: Nicht wahr, wir bleiben doch rechts und links von dir, wenn der große Augenblick kommt, wo du sichtbar anfängst zu regieren. Das ist der sehnliche Wunsch der beiden Jünger.
Sie, Jakobus und Johannes, wollen die Plätze, die Jesus am nächsten sind. Sie wollen neben ihm gesehen werden, mit ihm anerkannt sein.
Die anderen Zehn wollen das übrigens auch. Sie gestehen sich das nur nicht ein. Es ist unbescheiden. So etwas verlangt man nicht. Das muss einem doch angeboten werden. Darauf muss man warten können.
Nun, wenn zwei von Zwölfen nicht warten können und sich hervortun, dann ärgert das die anderen. Was nehmen sich die zwei eigentlich heraus? Vermutlich sind sie erleichtert, dass Jesus ihnen einen Denkzettel gibt, wie es scheint. Ihr wollt teilhaben an meiner Macht? Könnt ihr das, könnt ihr den Preis dafür zahlen? Wir können es, haben die zwei gesagt und es sicher auch so gemeint. Es ist ihnen doch ernst mit der Nachfolge. Später dann, im Garten Gethsemane, da haben sie genauso geschlafen wie Petrus, als sie mit Jesus wachen sollten. Und sie sind weggelaufen wie die anderen, als er verhaftet wurde. Ihnen, Jakobus und Johannes, hatte Jesus gesagt, dass er die Plätze links und rechts neben sich nicht selbst vergeben könne. Das steht einem anderen zu. Bei der Kreuzigung bekamen diese Plätze zwei Verbrecher. Von den anderen ist in diesem entscheidenden Moment niemand mehr sichtbar, weder von den Unbescheidenen, noch von den Zurückhaltenden.

Verdeckte Bedürfnisse in Kirche und GemeindeWas hier geschieht und beschrieben wird, muss uns nachdenklich machen. In der Kirche reden wir oft und gerne vom Zurückstellen eigener Interessen, von Gemeinschaft, vom Dienen. Offen geäußerte Machtansprüche verweisen wir gerne in den weltlichen Bereich. Doch wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass dort, wo vom Dienen gesprochen wird, vieles nicht anders läuft, nur verdeckter. Denn auch wer dienen will, kann Macht ausüben und Anerkennung und Bestätigung suchen. Am deutlichsten empfindet man das, wenn der erwartete Dank für die eigenen Mühen ausbleibt und der Einsatz für selbstverständlich gehalten oder gar kritisiert wird. Allerdings verbietet man sich meist, die Enttäuschung offen zu zeigen, denn das gehört sich nicht in der Kirche. Aber wenn dann andere daherkommen und sich erlauben, was man sich selbst versagt, dann regt sich Unwille.

Vom Bedürfnis zur Erfüllung im DienenWie gut, dass Jesus in unserer Geschichte Klartext redet. Er ruft alle zu sich, nicht nur die zwei Unbescheidenen, die groß sein wollen, sondern auch die zehn Bescheidenen, die sich dieses Bedürfnis verbieten, obwohl sie es auch in sich tragen. Jesus macht dieses Bedürfnis nicht moralisch herunter, sondern nimmt es an: „Wer groß sein will unter euch“, sagt er. Und daran knüpft er an: „der sei euer Diener“. Ich verstehe diese Worte so: Seht doch bitte mit offenen Augen, dass ihr das wirklich wollt: groß sein. Und das ist nicht böse oder verwerflich. Nicht dieses Bedürfnis ist schlimm, sondern wie ihr es zu stillen sucht. Ich möchte euch die Augen dafür öffnen, dass es Herrschen und Dienen auf zwei sehr verschiedene Arten gibt. Ihr habt ein Herrschen und Dienen im Blick, das euch über andere hinausheben soll. Beim Herrschen ist es offensichtlicher als beim Dienen, doch der Unterschied ist letztlich gering. Ihr wollt euch abheben voneinander und von anderen Gruppen. Ich möchte euch ein Herrschen und Dienen zeigen, das die Menschen verbindet. Sich anderen verbinden wollen, Verbindung suchen, sich in andere hineindenken, hineinfühlen, das ist befreiend, weil da nicht mehr der Gedanke drückt: Wie kann ich mich über die anderen hinausheben? Wie kann ich doch etwas besser sein?
Könnt ihr das?, fragt Jesus.
Das ist eine gute Frage, die zur Ehrlichkeit aufruft.
Was gehört zu dieser Art des Dienens? Ich denke, es bedeutet, die eigene Person zurückzunehmen und die anderen zu sehen in dem, was sie brauchen. Es könnte sein, dass ich ihnen etwas zugestehe, was ich mir selbst verbiete oder was mir das Leben versagt hat, mehr Freiheit vielleicht, mehr Unbeschwertheit, mehr Lebensfreude. Dies gilt besonders den jungen Menschen gegenüber, die das Leben oft so anders angehen als ich.
Es gehören Fragen zu dieser Art des Dienens: Kann ich anderen Fehler und Versäumnisse verzeihen, die ich mir selbst nur schwer verzeihen kann? Kann ich es gutheißen, dass Jesus immer die Nähe von Menschen gesucht hat, die sich verrannt haben in Unglück und Schuld? Kann ich mich von ihm inspirieren lassen, dass er ihnen eine Chance für einen neuen Anfang gegeben hat, auch wenn sie als hoffnungslose Fälle galten? Kann ich es bejahen, dass er ihnen etwas geschenkt hat, was ich mir vielleicht schwer erarbeitet habe? Dass er ihnen Vertrauen entgegenbringt, das ich viel eher zu verdienen meine, weil ich mich so bemühe? Oder ist es mir wichtig, mich von ihnen abzuheben?
Ob wir das können, eine solche dem menschlichen Miteinander dienende Haltung einnehmen?

Liebe Gemeinde, wir können das nicht von uns selbst heraus, aber wir können uns von Jesus die Augen öffnen lassen. Da stoßen wir vielleicht auf Neigungen in uns und auch in der Welt um uns, die Menschen ganz rasch einzuteilen in gewohnte Kategorien: Bessere und Schlechtere, Fromme und Ungläubige, Kluge und Ungebildete… Wer versucht, diese Fronten zu durchbrechen, läuft Gefahr, dazwischen zu geraten und zerrieben zu werden. Denn es ist allemal leichter, sich von anderen abzuheben als Verbindung mit ihnen zu suchen.
„Aber so ist es unter euch nicht“, sagt Jesus. Unter euch, sagt er. Nicht: Bei dir. Auf mich allein gestellt, bin ich dazu nicht fähig. Auf mich allein gestellt, holt mich schnell die Sorge ein, doch zu kurz zu kommen. Deshalb spricht Jesus von einer Gemeinschaft: unter euch.
Wir brauchen einander, um dies miteinander lernen zu können, dass wir uns nicht übereinander erheben müssen, sondern eine Verbindung zueinander schaffen, auch wenn unsere Wege völlig verschieden verlaufen sind. Wo kann das geschehen, wenn nicht hier, in unserer Kirche, in unserer Gemeinde? Welche Chance, sie miteinander zu einem Ort zu machen, wo es nicht so sein soll, dass der oder die eine besser ist oder fester im Glauben steht oder das Leben leichter bewältigt.
Dass in einer solchen Gemeinde nicht gleich der Himmel auf Erden beginnt, weiß unser realistischer Menschenverstand. Aber etwas ist anders: Der gemeinsame Blick zu Jesus hin kann allen immer wieder die Augen öffnen und die Frage stellen: Wie ist es unter euch?
Ich vertraue, dass er uns dann nahe ist und wir ihm. Amen.

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