Judica / 5. Sonntag der Passionszeit (02. April 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrer Gerd Ziegler, Backnang [Altenheimseelsorge.Backnang-Staigacker@elkw.de]

1. Mose 22, 1-13

Liebe Gemeinde!

Marc Chagall zählt zur Reihe der Künstler, die die „Opferung Isaaks“ ins Bild gesetzt haben. Im Vordergrund seines Gemäldes sind Gesicht und Oberkörper Abrahams zu sehen. Der Vater steht am Stapel des aufgeschichteten Holzes. Darauf liegt der Länge nach ausgestreckt Isaak. Sein Körper beschreibt eine sanfte Biegung und gibt den Hals frei. Sein Kopf hängt nach unten, doch sein Gesicht wendet sich dem Betrachter zu. Sein ganzer dargebotener Leib ist lichtüberflutet. Abraham hält in der Hand ein Messer, dessen Klinge nach oben zeigt. Ein blutroter Nebel umgibt sein Gesicht. Mit weit aufgerissenen Augen schaut er zum Himmel. Von dort streckt ihm ein blauer Engel mit großen Flügeln beide Arme entgegen, als wolle er dadurch den Abstand zwischen Himmel und Erde überwinden. Der Maler hält den letzten Moment vor dem drohenden Unglück fest. Über dem blauen Engel, am oberen Bildrand in der Ecke, wird eine weiße Gestalt erkennbar, ein Engel des Lichtes. Es wirkt, als sende die Lichtgestalt den blauen Engel aus. Beide bilden mit Abrahams Gesicht eine Diagonale. Hinter einem Baum kauert Sara. Ihre beiden Hände sind nach innen auf das Gesicht gekehrt. Sie wirkt verzweifelt. Am Baumstamm wartet der Widder, der anstelle Isaaks geopfert werden wird.

Vor der VersuchungWie konnte Abraham dahin kommen, seinen eigenen Sohn zu töten? Die Frage, die schon viele Juden und Christen umgetrieben hat, beschäftigt mich. Wer hätte nach den vorangegangenen Erzählungen von Abraham und Sara ein derartiges Drama erwartet?

Am Anfang zieht Abraham aus der angestammten Heimat fort. Er folgt Gottes Ruf, sein Vaterhaus und seine Verwandtschaft zu verlassen. Gott zeigt ihm ein neues Land und verheißt ihm viele Nachkommen. Zu einem großen Volk möchte Gott ihn machen. Abraham und Sara sehnen sich nach einem Kind, bekommen aber bislang keines. Elieser, der Verwalter, soll ersatzweise als Erbe fungieren. Als Sara spürt, dass sie wohl kein Kind mehr empfangen könnte, kommt sie auf eine alternative Idee. Abraham soll durch die Magd Hagar zu einem Sohn kommen. Ismael wird geboren und steht unter dem Schutz Gottes. Aber der Erbe der Verheißung ist jener nicht. Im hohen Lebensalter wird Sara doch noch schwanger – gegen alle Erwartungen – und bringt Isaak zur Welt. Abraham wird vor allen anderen Menschen als stark im Glauben beschrieben. Er vertraute fest auf die Zusage Gottes, der sie ihm gegenüber wiederholt ausgesprochen hatte.

Die PrüfungDen lang ersehnten Sohn, den verheißenen Nachkommen und Erben, soll Abraham als Opfer darbringen. Wie kann das sein? Es beginnt mit der einfachen Feststellung „nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham“. Gott weist ihn an, Isaak, „den du lieb hast“, auf einem Berg im Land Morija als Brandopfer zu opfern. Die Tragik der Anrede, die Wucht des göttlichen Befehls, wird unterstrichen durch die Betonung der väterlichen Liebe zu seinem Sohn. Als ob Abraham nicht wüsste, dass jetzt das Schicksal des geliebten Sohnes auf dem Spiel steht. Als ob er nicht wüsste, dass die Zukunft seiner Familie und seines Volkes auf dem Spiel steht. Kurz, als ob er nicht wüsste, dass es hier und jetzt ums Ganze geht.

Wenn ich mich gedanklich in diese Situation versetze, reicht meine Vorstellungskraft nicht aus, wie ein Mensch das aushält. Muss Abrahams Seele nicht bis zum Bersten brodeln? Muss sein Innerstes nicht außer Rand und Band geraten? Oder tritt eine Schockstarre ein, die Leib und Seele lähmt? Die Erzählung hält sich zunächst an nüchterne Fakten. Abraham steht „früh am Morgen auf“ und trifft die Vorbereitungen zur Reise. Er macht sich mit Isaak, zwei Knechten und dem Holz tragenden Esel auf den Weg.

Gehorsam bis zur Opferung„Am dritten Tag hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne.“ Abraham kann „sehen“, das kommt ihm zugute. Gibt die Erzählung damit einen Hinweis, den ungeheuerlichen Vorgang ansatzweise zu verstehen? Mehrmals heißt es in den dramatischen Szenen, dass Abraham sieht. Lässt sich das als Mittel gegen die Unterstellung eines blinden Gehorsams bei Abraham deuten? Meint „sehen“ nicht weit mehr, als den direkten Eindruck des Augensinnes? Meint es nicht auch ein umfassenderes Wahrnehmen, ein Erkennen des Hintergrunds, ein Verstehen des Zusammenhangs?

Das letzte Stück des Weges zum Opferplatz gehen Vater und Sohn gemeinsam. „Mein Vater“, sagt Isaak und fragt nach dem Opfertier, das nicht vorhanden ist. „Mein Sohn“, antwortet Abraham, „Gott wird sich ersehen ein Schaf.“ Menschlich zwar verständlich entspricht die Antwort keineswegs dem, was Abraham als Befehl Gottes vernommen hat. Das Gespräch zwischen Sohn und Vater auf dem Weg wirft ein Licht auf deren innige Beziehung. Sie gründet auf Vertrauen. Dessen ungeachtet führt Abraham die letzten Schritte zur Vorbereitung der Tat aus. Er bindet Isaak auf dem Holzstapel fest und nimmt das Messer, um ihn zu töten.

Vertrauen statt blinder GehorsamDas klassische Science-Fiktion-Epos „Krieg der Sterne“ thematisiert auch den Konflikt zwischen Gehorsam und Vertrauen in einer Vater-Sohn-Beziehung. Lord Vader hat sich der dunklen Seite der Macht verschrieben. Der Imperator schlug den einstigen Jedi-Ritter nach dem Meister-Schüler-Modell in seinen bösen Bann. Vader dient ihm fortan als Juniorpartner oder rechte Hand. Ihr Verhältnis wird bestimmt durch strikte Unterordnung in Befehl und Gehorsam. Doch Luke, der zwischenzeitlich erwachsene Sohn Vaders und letzte der Jedi-Ritter, „sieht“ das verborgene Gute in seinem Vater. Er glaubt an die Macht des Guten. Der Imperator macht sich die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn zunächst zu Nutze. Er lässt die beiden gegeneinander kämpfen in der Absicht, dass einer den anderen besiegt. Wäre Luke der Überlebende, würde er den Platz des Vaters an des Imperators Seite einnehmen. Doch es kommt anders: Luke verweigert den letzten Kampf gegen seinen Vater und liefert sich schutzlos den tödlichen Angriffen des Imperators aus. Das weckt noch einmal „das Gute“ in Lord Vader. Er greift ein und kann den Imperator in einer letzten Kraftanstrengung überwältigen. So haben Sohn und Vater den dunklen Herrscher gemeinsam besiegt. Vertrauen bricht blinden Gehorsam auf. „Sehen“ ist der Schlüssel zum Vertrauen.

Die Lösung der BindungMarc Chagall fasst die Wendung des Dramas ins Bild. Der Engel aus dem Himmel ruft ihn mit Namen und weist ihn an: „Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.“ Und weiter heißt es: „Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder.“ Was Abraham zuvor nicht sehen konnte, was er nicht wahrgenommen, nicht erkannt hat, das vergegenwärtigt die Stimme aus dem Himmel. Die Opferung Isaaks findet nicht statt. Somit trifft die Bezeichnung „Opferung“ diese Episode nicht. Nach jüdischem Verständnis handelt es sich um die „Bindung Isaaks“. Gefesselt lag der Sohn des Stammvaters auf dem Holzstapel, vorbereitet zur Schlachtung, zu der es nicht gekommen ist. Die himmlische Stimme, einhergehend mit Abrahams Sehen und Verstehen, löst die Bindung Isaaks.

Abrahams GlaubeEs mag sein, dass sich Israel oft mit dem gebundenen Isaak identifiziert hat. Das leidvolle Schicksal des Volkes deutet der Maler an. Die Brauntöne in der oberen rechten Ecke des Bildes korrespondieren mit den Brauntönen des Holzstapels, auf dem Isaak liegt. Umrissen wird das Volk auf der Flucht, der Weg ins Exil, die harten Bedingungen im gelebten Alltag und der das Kreuz tragende Jesus.

Wie im Gemälde steht Abraham im Mittelpunkt unserer Erzählung. Er ist der Handelnde, der Geprüfte. Sein Glauben trägt ihn. Wie kann ich seinen Glauben in dieser ungeheuerlichen Prüfung begreifen? Ich komme dabei an die Grenzen meines Verstehens. Mir hilft die Vorstellung der Besonderheit, der Einzigartigkeit: In der uns ganz und gar unmenschlich erscheinenden Versuchung erweist sich Abrahams Glaube als einmalig, als einzigartig. Sein starker Glaube ist Abrahams Alleinstellungsmerkmal. Dient Abraham vielen bis heute deswegen als Vorbild im Glauben? Von Gott gerufen, macht er sich auf den Weg. Ihn trägt der Glaube, der genährt wird durch Hören und Sehen. Auf meinem eigenen Weg möchte ich das von Abraham lernen. Amen.

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