Karfreitag (07. April 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Meike Zyball, Göppingen [meike.zyball@elkw.de]

Kolosser 1,13–20

IntentionDie Predigt thematisiert die Ambivalenz zwischen Karfreitag, an dem wir dem Leid und dem Schmerz Raum geben, und dem Hymnus aus dem Kolosserbrief. Der Hymnus lässt aufatmen. Er möchte aber nicht gegen Schmerz oder Leid ansingen oder dieses übertönen.

Ausgerechnet eine Lobeshymne?!„Ein Hoch auf uns. Auf dieses Leben. Auf den Moment. Der immer bleibt. Ein Hoch auf uns. Auf jetzt und ewig. Auf einen Tag. Unendlichkeit.“
Die Lautsprecher sind voll aufgedreht. Pure Freude fliegt mir aus dem weit geöffneten Fenster entgegen. Ich bin gedanklich bei dieser Karfreitagspredigt und gehe durch diese Straßen, und da schallt es mir entgegen:
„Ein Hoch auf uns. Auf dieses Leben.“ So höre ich es aus einer Wohnung klingen.
Das gibt’s doch nicht, denke ich mir. Zu Karfreitag passt das so gar nicht.
An einem stillen Feiertag. An dem Tag, bei dem wir uns im Besonderen an das Sterben von Jesus erinnern. Ja, das passt nicht zusammen: das gewaltvolle Sterben Jesu und seinen Tod zu bedenken und gleichzeitig ein Loblied anzustimmen. Und doch stimmt unser Predigttext ein solches an. Ein Loblied vor 2000 Jahren klingt so:

„Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes, in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene vor aller Schöpfung.
Denn in ihm wurde alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist,
das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften
oder Mächte oder Gewalten; es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.
Und er ist vor allem, und es besteht alles in ihm.
Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.
Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, auf dass er in allem der Erste sei.
Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen
und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin,
es sei auf Erden oder im Himmel,
indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.“

Es geht um das große Ganze. Der Hymnus, unser Loblied greift hoch. Jesus Christus ist in allem der Erste, er war vor allem, alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen. Und alles ist durch ihn versöhnt, egal ob im Himmel oder auf der Erde. Denn nichts gibt es im Himmel und auf Erden, was aus seinem Bereich ausgeklammert wäre. Denn einfach alles, wirklich alles, ist in ihm geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist. Egal, ob wir es sehen können oder nicht. Größer, universaler, umfassender kann gar nicht von Jesus gedacht und gesprochen werden.

In ein neues Reich versetztDer Predigttext setzt ein mit dem Satz: „Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes.“ Hier wird klar gemacht: Die Finsternis hat keine Macht mehr. Christinnen und Christen stehen jetzt in einem anderen Machtverhältnis. Nicht mehr die Finsternis herrscht über uns, sondern wir sind im Reich seines geliebten Sohnes. Wir gehören zu Jesus Christus. Es geht nicht um unsere individuelle Erlösung. Es geht nicht um traute Zweisamkeit, nicht um unsere persönliche Beziehung, sondern eben ganz allgemein: um uns! Wir – wir gläubige Menschen, wir, Christinnen und Christen. Wir gehören in das Reich von Jesus Christus. Und Jesus Christus ist derjenige, wir erinnern uns: in allem der Erste, er war vor allem, alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen. Und alles ist durch ihn versöhnt, egal ob im Himmel oder auf der Erde.

Keine Selbstversklavung mehrDer Kolosserbrief setzt universal, allumfassend ein. Der Brief stellt grundsätzlich klar, und das durchzieht den Brief: Christus hat durch seinen Tod und seine Auferstehung die Macht aller Kräfte und Gewalten durchbrochen. Da gibt es keine Mächte, oder Herrschaften, die die Menschen noch versklaven können. Keine Mächte, die Anspruch auf uns Menschen haben. Keine Form von Gewalt oder Herrschaftsansprüche, die uns klein halten sollen, die uns niederdrücken sollen. Keiner soll sich selbst versklaven durch Regeln und Gesetze. Keine Selbstversklavung durch zu hohe Ansprüche. „Wir müssen Kirche attraktiver machen.“ Das höre ich oft. Vielleicht wären wir auch attraktiver, wenn wir nicht ständig am Limit arbeiten und so überladen und überlastet daherkommen. Oft spüren wir in der kirchlichen Arbeit den Druck, etwas tun zu müssen, sonst macht es ja keiner. Kirchliches Engagement ist toll und wichtig, aber es gibt auch zu viele und zu hohe Ansprüche, bei denen wir uns meist schlechter sehen als wir sind. Denn wir können bei Jesus Christus aufatmen. Wir sind in die Freiheit gestellt. Wer zu Jesus Christus gehört, ist in die Freiheit gerufen, Hallelujah. Das hatten wohl die Adressaten des Briefes nötig – in aller Deutlichkeit zu hören. Denn im Verlauf des Briefes werden einige Regeln und Gesetze erwähnt, die die Gemeindeglieder versuchen allesamt zu befolgen. Im Wortlaut des Briefes klingt das so: „So lasst euch von niemanden ein schlechtes Gewissen machen wegen Speise und Trank oder wegen bestimmten Feiertagen, Neumondes oder Sabbats“ (Kol 2,16). „Was lasst ihr euch Satzungen auferlegen, als lebtet ihr noch in der Welt: Du sollst das nicht anfassen, du sollst das nicht kosten, du sollst das nicht anrühren“ (Kol 2,20–21).
Christsein besteht nicht im Befolgung eines starren Regelwerks. Kein Abhaken von Geboten, um bloß nichts falsch zu machen. Zum Christsein gehört der Glaube an Jesus Christus. Der Glaube, dass wir zu ihm gehören. Dass alle Macht bei Christus liegt, nicht bei anderen Mächten. Aber es steht auch nicht in unserer Macht – wir erlösen uns nicht selbst. Wir verdienen uns nicht Vergebung. Jesus Christus erlöst uns.
Eigentlich spannend, dies heute zu hören am Karfreitag, einem Feiertag, an dem wir noch viele Regeln kennen: Still soll dieser Tag sein, kein Fleisch soll heute gegessen werden, getanzt werden darf auch nicht.
Ich höre gleich eine Stimme in mir: Aber diese Regeln sind doch sinnvoll. Ja, sind sie. Diese Regeln helfen uns, um uns besser auf den Karfreitag einzustimmen, um im besten Falle die Botschaft von Karfreitag besser hören zu können. Wahrscheinlich finden wir bei allen Regeln, Gesetzen und Geboten eine solch gute Begründung. Regeln, Gesetze und Gebote helfen uns. Sie helfen uns wie heute am Karfreitag, uns auf die Botschaft konzentrieren zu können. Aber durch die Befolgung von Regeln und Gesetzen erlösen wir uns nicht. Wir erarbeiten uns keinen Platz in Gottes Reich. Denn, dass wir bei ihm einen Platz haben, dafür hat er schon längst gesorgt.

Aber da ist doch noch FinsternisHeute fällt es mir schwer, in dieses Loblied einzustimmen. Ich möchte gar nicht vollmundig singen. Heute will ich die zarten Töne anstimmen. Denn heute geht mein Blick zum Kreuz. Mein Gott stirbt – qualvoll und gedemütigt. Da wird ein junges Leben beendet. Da stirbt ein Hoffnungsträger. Gott selbst ist am Tiefpunkt. Auch wenn unser Predigttext einsetzt mit den Worten: „Er hat uns errettet aus der Macht der Finsternis“ – so kenne ich die Finsternis trotzdem noch. Da ist doch noch Finsternis. Finsternis in der Welt. Finsternis in meinem persönlichen Leben. Der Karfreitag bedeutet für mich, dass wir als Gottesdienstgemeinde dem Schmerz und dem Leid Raum geben. Das darf sein. Wir halten es heute miteinander aus. Denn wir glauben an einen Gott, der im Leid zu finden ist. Ein Gott, der sich verwundbar gemacht hat – so wie wir es sind.
Eric-Emmanuel Schmitt beschreibt das so gut in seinem Buch „Oskar und die Dame in Rosa“. Oskar ist erst zehn, aber er weiß, dass er sterben wird. Weder Chemotherapie noch eine Knochenmarktransplantation können sein Leben noch retten. Oma Rosa geht mit ihm in die Krankenhauskapelle. Im Anschluss schreibt Oskar in einem Brief an Gott:

„Ich habe natürlich einen Riesenschreck bekommen, als ich Dich dort hängen sah, (…) fast nackt, ganz mager an Deinem Kreuz, überall Wunden, die Stirn voller Blut durch die Dornen und der Kopf, der Dir nicht mal mehr gerade auf den Schultern saß. Das hat mich an mich selbst erinnert. Ich war empört. Wäre ich der liebe Gott, wie Du, ich hätte mir das nicht gefallen lassen (S.63f)“.

Oskar hat einen Riesenschreck bekommen, als er Gott am Kreuz hängen sah. Für uns ist der Anblick normal geworden. Aber auch wir erschrecken, wie das Leben manchmal weh tun kann. Wir erschrecken über den Schmerz, den wir selbst oder andere fühlen und ertragen müssen. Am Karfreitag erinnern wir uns daran, dass Gott sich das gefallen lassen hat. Dass auch er Schmerzen kennt. Ich möchte mit dem Lobeshymnus nicht gegen den Schmerz und das Leid ansingen, ihn nicht übertönen, nicht dem Schmerz seine Stimme nehmen. Denn Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit dürfen sein. Besonders am Karfreitag.
Vielleicht stelle ich mir den Lobeshymnus, diesen so vollmundigen Text, vor, wie ihn mir jemand ganz zart vorsingt. Nicht begleitet von einem gesamten Orchester. Sondern begleitet mit einem einzelnen Instrument. Nicht aus voller Kehle gesungen, nicht inbrünstig gesungen für einen ganzen Konzertsaal, sondern für mich gesungen. Wie ein Elternteil das unruhige Kind in den Schlaf wiegt und singt. Als zarte Erinnerung daran, dass da ein Ostermorgen kommt, ein Ostermorgen auf uns wartet. Jemand besingt für mich und für dich mit diesem Lobeshymnus die Größe, Weite und Fülle von Jesus Christus. Das kann ich heute am Karfreitag zwar nicht sehen, vielleicht auch nicht fühlen, und doch erahnen. Amen.

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