Karfreitag (29. März 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. habil. Christina Drobe, Stuttgart [Christina.Drobe@ELK-WUE.DE]

Matthäus 27,33-54

IntentionDie Gemeinde erhält eine Deutung der Ereignisse des Karfreitags, die den verschiedenen Herausforderungen von Jesu Leiden und Sterben begegnen will: Am Kreuz erschließt Gott die Tiefe der menschlichen Fehlbarkeit in ihren Abgründen, worin sich seine Güte zeigt.


Im Matthäusevangelium (27,33-54) wird von der Kreuzigung Jesu folgendes erzählt:
„Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er’s schmeckte, wollte er nicht trinken. Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. Und sie saßen da und bewachten ihn. Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König.
Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken.
Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren.
Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“
Amen.

Jesus stirbt am Kreuz. Eine frohe Botschaft!?Liebe Gemeinde, für uns ist der Tod dieses Mannes mit dem Namen Jesus Grund für einen der Hauptfeiertage im Jahr: Karfreitag. „Kara“ ist althochdeutsch und bedeutet Trauer, Klage, Kummer. Karfreitag ist also ein Trauer- oder auch Klagetag. Es wirkt mehr als befremdlich, das als Feiertag im Sinne des Wortes zu verstehen und damit auch noch Erlösung zu verbinden. Es ist befremdlich für Menschen außerhalb der christlichen Gemeinschaft und auch für viele, die sich dem christlichen Glauben verbunden wissen.
Wer die Schilderung des Sterbens Jesu an sich heranlässt, muss erschrecken. Denn es sind Menschen, die Jesus so quälen. Sie haben Gefallen daran, ihn zu entwürdigen. Er ist ihnen gleichgültig:

Wer nun noch die Vorgeschichte um den Richter Pilatus mit betrachtet, vermag vor allem eins zu sehen: die gnadenlose Ungerechtigkeit des Menschen. Sie wird durch kein Mitleid, keine weltliche Justiz gemildert. Denn Pilatus überlässt dem Volk das Urteil und wäscht seine Hände in Unschuld. Trauer und Klage scheinen die einzigen angemessenen Reaktionen zu sein. Hier eine frohe Botschaft zu finden, wirkt erst einmal geschmacklos, gerade mit Blick auf die vielen, oft auch namen-losen, Opfer menschlicher Ungerechtigkeit.
Nun feiern wir heute genau diesen furchtbaren Tod am Kreuz als Karfreitag. Da stellt sich doch die Frage: Was gibt es da eigentlich zu feiern?

"Steig herab vom Kreuz!“ – Warum eigentlich nicht!?„Steig herab vom Kreuz!“ – Damit verspotten sie den am Kreuz Leidenden besonders tief. Denn niemand rechnet damit, dass dieser Mann sich noch helfen kann.
Für mich war das als Kind jedoch eine ernsthafte Frage: Wieso steigt er nicht einfach hinab vom Kreuz? Mir hätte er damit Mut gemacht und Hoffnung geschenkt. Gott hätte so gezeigt, dass er so mächtig ist, all das Leid, das Menschen sich zufügen können, zu verhindern. Ich habe viele verschiedene Antworten darauf erhalten, die ich nicht richtig verstanden habe. Antworten wie:
• Gott hat einen Heilsplan.
• Gottes Wege sind unergründlich.
• Gott leidet in Jesus mit uns.
Sie haben diese Sätze so oder anders vielleicht auch schon einmal gehört. Alle diese Antworten sind verbunden mit dem Satz: „Jesus ist am Kreuz für deine (oder auch unsere) Sünden gestorben.“ Ich muss zugeben: Auch als ich älter wurde, hat mich wenig davon bewegt. Geht ihnen das vielleicht auch so?
Jede dieser Antworten hat ihren Preis und stellt vor neue Herausforderungen:
Schaue ich vor allem auf Gottes Größe und seinen Heilsplan, laufe ich Gefahr, die Leiden des Menschen Jesus herunterzuspielen und als Mittel zu einem größeren Zweck zu verstehen. Da kommt die Frage auf: Wie kann ich auf die Güte eines Gottes vertrauen, der für einen Heilsplan seinen eigenen Sohn als Mensch einem grausamen Kreuzestod mit Hohn und Spott unterwirft?
Widme ich mich hingegen in erster Linie dem leidenden Gott, erscheint Gott so ohnmächtig, dass ich darin weder Trost noch Hoffnung auf Gerechtigkeit finden kann. Ein toter Gott kann sich selbst und niemand anderem helfen. Deshalb gibt es viele Menschen, die solch einen leidenden und ohnmächtigen Gott als Provokation erleben. Das Kreuz Jesu wird deshalb schon in der Bibel als „Ärgernis“ bezeichnet.
Wie auch immer man es dreht und wendet, es bleibt dabei: Gott verhindert das Leiden und Sterben Jesu nicht. Er scheint es entweder zu wollen, zu dulden oder auch zu ertragen. Wie kann ich darin Erlösung finden und gleichzeitig an Gottes Allmacht und auch an seine Güte glauben?

„Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ – Irren ist (leider) menschlich!Und dann noch das: Jesus erlebt sich als von Gott verlassen und betet in seiner Not: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Die Umstehenden verspotten ihn weiter und zeigen ihm so: Gott wird nicht kommen, um dir zu helfen! Daraufhin schreit Jesus noch einmal laut auf und stirbt.
Doch mit Jesu Tod passiert etwas Unglaubliches: Der Vorhang des Tempels zerreißt. Das Allerheiligste wird sichtbar. Die Erde bebt und die Felsen zerspringen. Die Gräber öffnen sich und die Toten stehen auf. Das sind Bilder, wie wir sie aus der Offenbarung des Johannes kennen. Es sind Zeichen dafür, dass eine neue Welt anbricht.
An ihrem Anfang steht die Einsicht des Hauptmannes und seiner Soldaten, dass sie sich furchtbar geirrt haben. So gesteht der Hauptmann, nachdem Jesus gestorben ist: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“.
„Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“ Damit wird der Irrtum sichtbar, der zur Kreuzigung Jesu geführt hat: die korrupte Justiz, die Brutalität, die Demütigungen, das fehlende Mitgefühl. Das Kreuz Christi zeigt ungeschönt die umfassende Fehlbarkeit des Menschen. Traditionell formuliert: Am Kreuz werden Schuld und Sünde des Menschen sichtbar. Auch heute noch. Es passiert immer wieder, dass ich, dass wir, dass Menschen Wahrheit nicht sehen wollen oder können. Und das hat schlimme Auswirkungen. Der Evangelist Lukas erzählt in seiner Schilderung der Kreuzigung noch ein weiteres letztes Wort Jesu: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Irren ist nur allzu menschlich, leider.
Doch ob absichtlich oder nicht, die Folgen menschlichen Irrtums sind verheerend. Für mich ist des-halb folgendes der Kern am Karfreitag: Gott zeigt uns durch Jesu Leiden und Sterben am Kreuz schonungslos, was Menschen einander antun – wie fehlbar sie sind, wie selbstherrlich und so weit weg von Gott.
Aber dass dies sichtbar wird, ist der Anfang einer neuen Welt!
Darin liegt die frohe und erlösende Botschaft des Karfreitags. Ein Sprichwort sagt: „Einsicht ist der erste Schritt zur Besserung.“ Einsicht heißt, dass ich nicht mehr weitermachen kann wie bisher. Ich sehe meine Fehler ein und versuche, möglichen Schaden zu mildern oder gar abzuwenden. Man stelle sich vor, wie unsere Welt aussähe, wenn alle einsehen würden, wie brutal, korrupt, rücksichtslos, selbstherrlich oder totalitär sie sind. Wenn sie vor sich selbst erschrecken und erkennen würden, wie sehr sie sich geirrt haben.
Formelhaft anmutende Sätze bekommen so Sinn – jedenfalls für mich. Sätze wie: „Bekenne deine Sünde! Jesus ist am Kreuz auch für meine Sünde gestorben. Jesus trägt unsere Schuld.“ Gott wirkt durch den furchtbaren Kreuzestod Jesu die Einsicht in den Irrtum – vielleicht, weil Menschen nur so drastisch zur Einsicht bewegt werden können. Leider kommt die Einsicht oft erst, wenn es zu spät ist. Ich nehme an, Sie kennen das auch. Hätte Gott Jesu Leiden und Sterben am Kreuz verhindert, wäre diese grundsätzliche Einsicht in die menschlichen Abgründe so jedenfalls nicht möglich gewesen.
Darum geht es für mich am Karfreitag: Gott handelt durch das Kreuz. Deshalb sehe ich Schuld ein – nicht nur die der anderen, sondern auch meine eigene. Ich stelle mich den fatalen Folgen, die sie hat. Ich kehre um. Gott hindert uns nicht an unserer Schuld, er überwindet sie. Sie hat nicht das letzte Wort. Aber das ist etwas für den Ostersonntag.

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