Miserikordias Domini (23. April 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer Hartmut Mildenberger, Stuttgart [Hartmut.Mildenberger@elkw.de]

1. Petrus 5,1-4

IntentionDie Predigt setzt sich mit dem Hirten-Bild als Leitbild für eine fürsorgende Kirche auseinander. Sie führt dieses weiter und verweist dabei auf den obersten Hirten Gott, der sich in Jesus Christus als solcher zeigt.

Drei pastorale SzenenMäh, mäh, im Mitteilungsblatt meiner ehemaligen Gemeinde war ein Bild veröffentlicht. Darauf war ich zu sehen mit einigen Gemeindegliedern beim Gemeindefest. Bildunterschrift: „Pfarrer Mildenberger mit seinen Schäfchen“. Daraufhin wurde ich von einer Frau angesprochen mit „mäh, mäh“. Sie war Kirchengemeinderätin und in vielen, vielen Aufgaben in der Gemeinde aktiv. Sie war in diesem Sinne kein „Schäfchen“, sondern selbst eine wunderbare Hirtin. Die Reaktion der Mitarbeiterin zeigte mir, dass dieses Bild vom Pfarrer als Hirten, als Pastor, nicht mehr einfach so passt.
Eine andere Szene: „Könnten Sie nicht bei meiner Mutter vorbeischauen?“, bat mich eine Frau. Vor einigen Monaten beerdigte ich den Vater der Frau. Er hätte nun Geburtstag, und seine Frau, die Witwe, trauert sehr. Wäre das nicht ein Anlass für einen Hausbesuch? Es braucht Menschen, die sich kümmern, die hingehen, die aufsuchen. Das ist ein anderer Eindruck vom Hirtendienst. Manchmal werden Pfarrerinnen und Pfarrer gebraucht als Hirtinnen und Hirten. Deshalb die im Norden gebräuchliche Berufsbezeichnung Pastor, Pastorin. Es ist das lateinische Wort für Hirte. Pfarrerinnen und Pfarrer werden auch gebraucht als Menschen, die ansprechbar sind, die sich kümmern. Sie werden in diesem Sinne gebraucht als Seelsorgende.
Der Pfarrberuf ist vieldimensional, und in Gemeinden haben Geistliche eine Parochie. Das heißt, sie sind zuständig für so und so viel Gemeindeglieder im Umfeld. Immer wieder gibt es Reformprozesse in der Kirche. Unter anderem werden Pfarrstellen gestrichen mit dem sogenannten Pfarrplan. Zuständigkeitsgrenzen werden verschoben. „Wir wissen gerade gar nicht, wer für uns zuständig ist“, so eine andere Stimme bei einem Besuch. Davon lebt die Kirche: Menschen haben die Gewissheit: „Da ist jemand zuverlässig für mich da, wenn ich ihn brauche.“ Und Seelsorge heißt auch: „Da merkt jemand, dass ich fehlte, da schaut jemand nach mir.“

Hören wir auf den heutigen Predigttext. Er steht im ersten Petrusbrief 5, 1-4:
„Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.“

Auftrag an Kirchenleitende und ihre KlageDer Apostel hat ein wichtiges Anliegen: „Weidet die Herde Gottes, achtet auf sie.“ Der Apostel hat keine Pastorenkirche im Blick, sondern er spricht zu den Ältesten der Gemeinde, zu denen, die Verantwortung übernommen haben. Heute wäre an Menschen mit Verantwortung zu denken, zum Beispiel an den Kirchengemeinderat. Er fordert sie auf, sich um die Gemeindeglieder zu kümmern, sie zu weiden.
Die Aufgabe des Hirtendienstes ist in der Bibel nicht einfach delegiert an Fachleute, sondern Aufgabe vieler. Sie sollen tun, was Hirtendienst ist: die ganze Herde weiden, das heißt führen und zeigen, wo es hin geht. Sie sollen darauf achten, dass es allen, die ihnen anvertraut sind, gut geht. Gefährdungen sollen abgewehrt werden. Niemand soll verloren gehen.
Ich denke an Kirchengemeinderatssitzungen, in denen wir auch über Austritte sprechen. Sie sind schmerzhaft und trotz intensiver Mühe nicht zu vermeiden. Dann will ich Gott klagen, was mich bewegt, und sprechen. „Gott du siehst doch, wie sehr wir uns bemühen. Wir tragen Verantwortung, und wir sind manchmal unsicher, ob wir ihr gerecht werden. Vielleicht machen wir auch manches falsch – dann gib uns deinen Geist, der uns zeigt, was zu tun ist. Und wir wollen dir auch sagen, wie sehr es uns schmerzt, wenn wieder jemand deiner Gemeinde den Rücken kehrt. Ich will es dir klagen für mich und für viele. Es ist nicht einfach, deine Gemeinde zu weiden. Hilf doch! Du bist doch der gute Hirte.“

Gott als Oberhirte in biblischen BildernDurch so ein Gebet finde ich Halt. Der Apostel weist mich zudem auf den „Erzhirten“ hin. Da ist noch ein ganz anderer Hirte: Gott selbst ist der gute Hirte, der Oberhirte.

Was heißt es, dass Gott Oberhirte ist? Vorhin haben wir im Psalm miteinander gebetet „Der Herr ist mein Hirte.“ Dieser Vertrauenspsalm, Psalm 23, erinnert daran, dass die Gemeinde nicht für sich selbst sorgt. Da ist ein anderer für sie da, der sorgt: Gott ist der Hirte.
Das Bild vom guten Hirten geht bis auf den Hirtenjungen David zurück. Klein und jung, wie er war, verteidigte er seine Schafe und Ziegen auch gegen Löwen und Leoparden. Er bewahrte seine Herde auch in Hitze und Trockenheit und behütete sie. David hat empfunden und formuliert: So ist Gott – wie ein Hirte, der für mich sorgt, mich unterstützt und der mit mir auch durch dunkle Täler geht.
Gott ist der Hirte. Das gilt es festzuhalten. Was für ein Halt in stürmischen Zeiten und in dunklen Tälern!
Immer wieder wende ich mich ihm zu und vertraue darauf: Gott ist da. Auch wo ich als Mensch schwach bin, Gott ist da. Wo Menschen mit Verantwortung in Kirche und Gemeinde ratlos werden, da steht ihnen einer bei, Gott selbst führt und leitet seine Kirche und seine Gemeinden durch die Jahrhunderte hindurch. Immer wieder haben Menschen seine Stimme gehört und sind ihm gefolgt. Sie erfahren Zuwendung und beten mit: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde.“
Dieses „Du“ Gottes entlastet. Da ist einer, der die Kirche führt und leitet. Da ist einer, der für mein Leben da ist, mich führt und leitet.

Jesus hat ein wunderbares Gleichnis erzählt. Ein Hirte hat hundert Schafe. Als er sie zählt, merkt er, dass eines fehlt. Er kennt sie alle. Der Hirte lässt die restlichen Schafe beieinander und macht sich auf die Suche. Überall sucht er, denn er vermisst dieses einzelne Schaf. Der Hirte sucht lange, überall. Vielleicht hat es sich verirrt oder ist verletzt oder hat sich verfangen. Hoffentlich lebt es noch. Der Hirte sucht so lange, bis er es findet. Ja, da ist es. Was für eine Erleichterung, es lebt. Er nimmt es auf die Schultern und trägt es. Er trägt es heim. Sein Gesicht leuchtet. Allen muss er erzählen: Ich habe das Verlorene gefunden.
Dieses Gleichnis erzählt von Gottes Sehnsucht und Fürsorge. Es erzählt von Gottes Barmherzigkeit. So heißt der heutige Sonntag: „Barmherzigkeiten Gottes“, Misericordias Domini.
Das Gleichnis zeigt: Gott ist verlässlich. Er lässt einen nicht im Stich. Gott bleibt in Verbindung. Gott ist da, auch wenn wir ihn gerade nicht sehen. Gott fühlt mit, ist voller Erbarmen. Und wird jedem Menschen gerecht.

Menschen haben in Jesus auch selbst den Oberhirten erkannt. Das Johannesevangelium führt aus: Christus ist der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Die Seinen kennen seine Stimme. Sie kennen ihn und folgen ihm nach.
Von Ostern her und im österlichen Licht sehen wir auf Jesu Kreuzigung und Tod. Er geht hinein in den Rachen des Todes. In ihm geht Gott selbst hinein in den Rachen des Todes. Und er überwindet, was uns von Liebe und Barmherzigkeit trennt. So zeigt sich in Jesus, wie Gott Oberhirte ist.

Es gibt viele Bilder von Gott, und manchmal helfen auch abstrakte Begriffe wie Liebe oder Barmherzigkeit. Aber ich möchte auf die Bilder von Gott als dem guten Hirten nicht verzichten, auch wenn wir heute in einer Industriegesellschaft leben. Das Bild vom guten Hirten schützt vor eigener Überforderung. Es gibt Halt für das eigene Tun.

Beauftragt und doch befreitHören wir noch einmal auf den Petrus: „Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist. Achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt. nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund.“
Soll ich meines Bruders Hüter sein? Soll ich meines Bruders Hirte sein? Ich meine: Ja, ich bin mit dafür verantwortlich, wie es meinem Bruder oder meiner Schwester geht. Ich nehme diese Verantwortung als Mensch an – als Gemeindeglied, als Mitmensch oder als Kirchengemeinderat. Ich nehme diese Verantwortung aus freien Stücken an, nichts und niemand zwingt mich dazu. Liebe aus freien Stücken zwar, aber doch so, wie ich es eben vermag. Ich kümmere mich von Herzen und soweit mein Herz mich dabei trägt. In all meinem Tun und Lassen weiß ich mich – und alle anderen und die ganze Welt – gehalten und getragen vom Erzhirten. Gott selbst weidet seine Kirche, seine Welt und jeden einzelnen Menschen. Vertrauen wir darauf. Amen.

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