Miserikordias Domini (04. Mai 2025)
Johannes 10,11-16.27-30
IntentionDie Predigt stellt sich der Spannung zwischen dem Bild von Jesus Christus als gutem Hirten und dem Gekreuzigten: In Kreuz und Auferstehung Jesu erschließt Gott die Tiefe der menschlichen Fehlbarkeit in ihren Abgründen, in denen er allein sich als der eine gute Hirte zeigt.
Liebe Gemeinde,
"Der Mensch ist ein Gewohnheitstier."
So sagen wir es umgangssprachlich.
"Der Mensch ist ein Gewohnheitstier."
Die meisten von uns sind froh, wenn alles in festen und vertrauten Bahnen verläuft: ein geregelter Tagesablauf, regelmäßige Termine, eine geregelte Arbeit, regelmäßige Kontakte zu unseren Freunden und Bekannten, vielleicht sogar ein regelmäßiger Stammtisch?
Gewohnheiten geben Sicherheit. Gewohnheiten stiften auch Sinn. Ich meine gerade nicht das, was wir manchmal als mühsamen und langweiligen Alltagstrott erleben. Ich meine damit all das, was wir uns im Laufe unseres Lebens aufgebaut haben. Ich meine damit all das, was uns lieb und teuer geworden ist. Ich meine damit das, was unser Leben ausmacht.
Doch was ist, wenn vieles davon auf einmal oder auch nach und nach wegbricht? Wenn vieles fehlt, was unserem Leben auf angenehme Weise Halt und eine für uns sinnvolle Struktur gegeben hat?
Dann stehen wir vor der Herausforderung, unser Leben neu erfinden zu müssen. Wir müssen einen neuen Rahmen schaffen, in dem wir Vertrautes vielleicht wieder integrieren oder neu aufbauen können. Das ist keine einfache Aufgabe.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich selbst habe auf jeden Fall im Kleinen wie im Großen solche Brüche schon erlebt:
• Einen Umzug in ein völlig neues Umfeld.
• Den Wechsel des Arbeitsplatzes.
• Die Diagnose einer schweren Krankheit.
• Die Pflege eines Angehörigen.
• Der Tod eines lieben Menschen.
Solche Dinge können alles auf den Kopf stellen.
Nichts ist mehr, wie es vorher war.
Wir fühlen uns hilflos.
Wir fühlen uns ohnmächtig.
Wir verlieren die Orientierung…
Wie schön wäre es da, wenn es eine starke Hand gäbe, die uns führt und leitet, jemanden, der uns Vertrautes zurückgibt und das Leben wieder stabil macht.
Das Bild vom guten HirtenHören wir dazu den heutigen Predigttext aus dem Johannesevangelium:
„Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe.
Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. (…)
Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,11-16.27-30)
Der heutige Sonntag hat Jesus Christus als den guten Hirten zum Thema. Der gute Hirte ist ein sehr beliebtes Bild für Jesus Christus.
Es gibt unzählige Darstellungen vor allem aus dem 19. Jahrhundert, die Jesus als Schafhirten zeigen, meist in ausgesprochen idyllisch-ländlicher Umgebung, oft auch mit einem jungen Lamm über die Schultern gelegt…
Mit Blick auf dieses Bild von Jesus als dem guten Hirten scheint die Lösung für einen Halt in unserem Leben zunächst ganz einfach:
Wir müssen uns einfach an Jesus orientieren. Wir müssen seinem Hirtenstab folgen. Er sorgt für uns. Wenn wir ihm nachfolgen, wird es uns gut gehen, und uns wird nichts mangeln.
Doch wie passt dieses wunderbare Bild vom guten Hirten mit dem Bild des gekreuzigten Jesus zusammen? Dieser Jesus leidet. Er wirkt ohnmächtig und hilflos.
Mit dem Bild des Gekreuzigten haben viele Menschen immer wieder Schwierigkeiten – sowohl außerhalb als auch innerhalb der christlichen Gemeinschaft. Manche sagen es sehr offen: Jesus als der gute Hirte, der über meinem Leben wacht, mich beschützt und dem ich folge – das ist der Kern meines Glaubens. Jesus der Gekreuzigte dagegen – damit kann ich wenig anfangen. Vielleicht geht Ihnen das auch so!?
Denn diese beiden Bilder von Jesus sind schwer zusammenzubringen.
Das zeigt uns folgende Geschichte:
Inmitten einer Schafherde, die aufgeschreckt durcheinanderläuft, wird deren Hirte gefunden, er-schlagen von Räubern. Er wollte seine Herde nicht anderen überlassen; er ergriff nicht die Flucht, sondern stellte sich schützend vor sie und stellte sich den Räubern entgegen. Dafür musste er mit dem Leben bezahlen. Der Hirte ließ sein Leben für seine Schafe. Schutz konnte er der Herde dann jedoch nicht mehr bieten. Er konnte sie nicht retten. Die Räuber hatten schließlich freie Bahn…
Nun spricht unser Predigttext gerade von dem gekreuzigten Jesus als gutem Hirten. Wie bringen wir das zusammen?
Er scheint uns Orientierungslosigkeit, Leid, Krankheit und Tod nicht ersparen zu können! Er wurde doch selbst verschmäht, hat gelitten und wurde schließlich unschuldig zum Tode verurteilt.
Der gute Hirte als Gekreuzigter und AuferstandenerIch denke, der Schlüssel dazu, wie wir das Bild vom guten Hirten mit dem des Gekreuzigten zusammenbringen können, liegt in dem Fest, das wir vor zwei Wochen gefeiert haben: Er liegt im Osterfest. Denn der gute Hirte ist nicht nur der Gekreuzigte, sondern auch der Auferstandene!
Durch seine Auferstehung schafft Jesus das, was dem Hirten aus unserer Geschichte nicht gelingt: er überwindet Ungerechtigkeit, Leid und Tod – für uns.
Anders als menschliche Hirten lässt er weder seine Herde noch seine verirrten Schafe durch seinen Tod im Stich. Er führt sie zum Glauben an Gott, den Vater. Er führt sie in seine Herde. Er schenkt allen, die an ihn glauben, ein neues Leben: Im Glauben an den einen guten Hirten erkennen wir den, der unser Leben leitet. Nicht wir sind die Hirten unseres Lebens, sondern Gott ist es. Wir haben es eben in der Schriftlesung gehört. Das offenbart er uns durch Kreuz und Auferstehung Jesu.
Darin erkennen wir unseren Irrtum, selbst Hirten unseres Lebens oder sogar Hirten anderer sein zu wollen. Wir sehen am Kreuz, wo das hinführt: in ungerechte Justiz, Spott, Hochmut und Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid.
Dazu heißt es im Predigttext: „Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.“ Am Kreuz wird das sichtbar: Wir sind die Mietlinge, keine echten Hirten. Diese Einsicht ist eine Wohltat unseres guten Hirten für uns: Alle menschlichen Urteile bleiben vorläufig, nicht wir haben das letzte Wort, sondern Gott. Er ist der eine gute Hirte. Er ist der Hirte aus Psalm 23. Wir Menschen eignen uns in unserem Irren nicht dafür, Hirten zu sein. Der Anspruch überfordert uns entweder, oder er führt uns in hochmütige Allmachtsphantasien.
Mir als Pfarrerin wird das in meinem Dienst konkret immer wieder bewusst: Ich kann nicht überall sein. Ich bin auch nicht allmächtig, habe nicht für alles eine Lösung, habe meine menschlichen Grenzen. Deshalb verstehe ich mein Pfarramt entgegen einer traditionellen Meinung auch nicht als Hirtendienst. Ich verstehe mich vielmehr als Zeugin des einen guten Hirten. Ich sorge dafür, dass Menschen von der frohen Botschaft hören, und hoffe darauf, dass der Heilige Geist sein Werk tut. Ich verkündige bei Beerdigungen die Hoffnung auf Auferstehung und Vollkommenheit eines Menschenlebens im Angesicht Gottes. Ich sitze in Gremien (und besetze das Pfarrbüro neu) mit der Absicht, dass hier vor Ort unsere Herde in Gottes Namen zusammenkommen kann. Anders als Gott, der gute Hirte, kann ich nicht immer bei allem dabei sein. Ich bin nicht allgegenwärtig. Gerade in Zeiten des Rückgangs von Pfarrpersonal halte ich es für zentral, als Zeugin des einen guten Hirten unterwegs zu sein und mich auf die sogenannten Kernaufgaben des Pfarramtes zu konzentrieren: Verkündigung – Seelsorge – Lehre, damit Menschen zu Gott und seiner Herde finden.
Er ist es, der seine Herde leitet und ihr zusagt: Freut Euch! Ungerechtigkeit, Leid und Tod haben nicht das letzte Wort über euch! – Ihr werdet mir nachfolgen: Ihr werdet in eurem Leben so manche Ungerechtigkeit erfahren. Ihr werdet immer wieder Leid und Tod ertragen müssen, in eurem Irrtum den falschen Hirten folgen oder euch selbst für Hirten halten. Aber all das wird nicht das letzte Wort haben. Vielmehr spricht Gott durch Jesus Christus:
„Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben.“
Dieses ewige Leben, in dem Gott abwischen wird alle Tränen und in dem Leid und Tod nicht mehr sein werden, ist nicht nur etwas, das uns nach diesem Leben erwartet.
Dieses ewige Leben dürfen wir schon jetzt immer wieder erfahren.
Wenn wir auf diesen guten Hirten vertrauen und ihm folgen, finden wir den Mut und die Kraft, so manch alte Gewohnheit und so manch falschen Hirten loszulassen.
Wir finden in unseren Brüchen den Mut, neue Wege zu gehen.
Das Vertrauen auf den Gekreuzigten, den Auferstandenen, den guten Hirten macht uns stark in unserem Einsatz für die Welt und füreinander – auch unter ganz neuen Bedingungen.
Es schenkt uns Hoffnung, wo nichts als Verzweiflung war.
Es schenkt uns Freude, wo nichts als Trauer war.
Es schenkt uns Leben, wo nur der Tod zu warten schien.
Es schenkt uns Kraft und Orientierung, damit durch seine Herde das ewige Leben sichtbar wird, in dem wir einsehen und davon Zeugnis ablegen: Nicht Menschen sind die guten Hirten unseres Lebens, sondern Gott allein durch Jesus Christus, seinen Sohn, und den Heiligen Geist, durch den wir ihm folgen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
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