Miserikordias Domini (10. April 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Karl-Adolf Rieker, Herrenberg [ka.rieker@gmx.de]

1. Petrus 2, 21-25

Liebe Gemeinde!

Diese Zeilen aus dem 1. Petrusbrief klingen beim ersten Hören sehr anspruchsvoll und theoretisch.
Wenn man aber genauer hinhört, oder noch besser hinsieht, also den Text ansieht, dann merkt man, dass er voller Bilder steckt.
Von Christus als dem Vorbild ist hier die Rede, von seinen Fußstapfen, also seiner Lebensspur, der wir nachfolgen sollen.
Seine Spur, so wird behauptet, führt in die richtige Richtung.
Seine Fußstapfen führen hin zu einem gelungenen, bewussten und heilen Leben.
Sein Weg war ein Weg ohne Sünde.
Und zu einem solchen Weg werden wir eingeladen und aufgefordert.

Sünde – was ist das?Ein Lebensweg ohne Sünde – wie geht das?
Ja, Sünde, was ist das überhaupt?
Das Wort „Sünde“ bedeutet auf jeden Fall etwas Schlechtes. Es steht für ein verkehrtes, misslungenes und verlorenes Leben. In der Sprache der Theologen und der Kirche kommt dieses Wort oft vor, und es wird vor der Sünde gewarnt.
Die Frage ist nur: Was steckt denn hinter diesem Wort konkret? Wie sieht die Gestalt der Sünde denn in Wirklichkeit und praktisch aus?
Hierauf gibt unser Predigttext eine erstaunlich klare und konkrete Antwort. Und zwar im Zusammenhang mit Christus. Es wird nämlich gesagt, dass Christus ohne Sünde war. Wenn er also ohne Sünde war, dann ist das Gegenteil von dem, was er getan hat, und wie er sich verhalten hat, ja wohl Sünde – das ist logisch.

Und wie hat sich Christus verhalten?
Drei Verhaltensweisen werden hier genannt, deren Gegenteil uns die Gestalt der Sünde deutlich vor Augen führt.
Und darüber möchte ich mit Ihnen nun, liebe Gemeinde, etwas nachdenken. Und ich tue das speziell auch im Hinblick auf unsere Kinder und Enkelkinder.

Leben ohne LügeAls erste Verhaltensweise von Jesus heißt es:
„In seinem Mund fand sich kein Betrug.“
Das bedeutet: Er hat nicht gelogen. Er redete und lebte die Wahrheit. Das Gegenteil von Wahrheit aber ist Lüge.
Und so ist die Lüge die erste Gestalt der Sünde.

Diese Gestalt ist vielfältig. Es gibt die verschiedensten Formen und Arten der Lüge in der Wirklichkeit unseres heutigen Lebens.
Die Lüge im Kleinen als Banalität und Kavaliersdelikt.
Die Lüge im Großen als Skandal und Strafdelikt.
Die Hauptgefahr aber liegt darin, dass wir uns an die Lüge längst gewöhnt haben. Dass wir nicht nur andere, sondern oft genug uns selbst belügen.

Die eigene Lebenslüge kann zum Verhängnis werden.
Ich kann mich jahrelang über die Defizite meiner Seele, über die Krankheit meines Körpers, ja über die Hohlheit und Sinnlosigkeit meines ganzen Lebens hinweglügen, ehe es zum Zusammenbruch kommt und die Selbstlüge offenbar wird.
Unsere Kinder oder Enkelkinder merken das viel früher.
Sie haben ein unverbrauchtes und empfindliches Gespür für Wahrheit und Lüge. Und sie merken, ob wir Erwachsenen mit dem, was wir tun und sagen, wahrhaftig sind.
Wahrhaftig sein können wir dann, wenn wir daran glauben, dass es einen gibt, der die volle und ganze Wahrheit über uns kennt. Und wenn wir darauf vertrauen, dass er, Gott, uns dennoch schätzt und uns hilft, den verhängnisvollen Mechanismus der Lüge zu durchbrechen.

Leben aus der VergebungIch komme zur zweiten Verhaltensweise Jesu. Sie heißt:
„Als er gescholten wurde, schalt er nicht zurück, und als er leiden musste, drohte er nicht mit Vergeltung.“
Das bedeutet: Er hat sich nicht gewehrt.
Er lebte und praktizierte die Vergebung.

Das Gegenteil von Vergebung ist die Vergeltung, die Rache.
Sie ist die zweite Gestalt der Sünde. Und auch ihre Gestalt ist vielfältig.
Sie reicht von der Forderung einer Revanche bei Sport und Spiel, bis hin zur brutalen Vergeltung mit Gewalt und Krieg.
Die Hauptursache für Rache- und Vergeltungsgelüste liegt wohl im Stolz des Menschen. Es fällt uns schwer, Unrecht zu ertragen. Wir sträuben uns gegen ein Demutsverhalten. Viel lieber schlagen wir zurück und vergelten Gleiches mit Gleichem. Das aber kann zu einem Teufelskreis der Rache werden, und die Schraube der Gewalt und Vergeltung dreht sich immer höher.
Unsere Kinder übernehmen dieses Verhalten. Und ich denke, es ist entscheidend, ob sie in einem Klima der Gewalt und der Vergeltung aufwachsen, oder ob sie von ihren Eltern und Großeltern auch Vergebung erfahren.
Denn vergeben können wir nur dann, wenn wir selber Vergebung erfahren haben. Und wenn wir darauf vertrauen, dass Gott uns alle unsere Sünden vergibt, wenn wir ihn aus vollem Herzen darum bitten.

Leben in der NachfolgeÜber die dritte Verhaltensweise Jesu heißt es:
„Er hat sich aufgemacht und unsere Sünde selbst hinaufgetragen auf das Holz.“
Das bedeutet: Er hat sich in Bewegung gesetzt.
Er hat sich auf den Weg gemacht. Auf den Weg von Galiläa nach Jerusalem. Ein Weg, auf dem er vielen Menschen geholfen und das Heil gebracht hat. Dieser Heilsweg war aber noch nicht alles. In Jerusalem angekommen, begann der Leidensweg hinauf nach Golgatha. Und mit dem Kreuz hat er das ganze Unheil dieser Welt mitgeschleppt.
Jesus hat sich aufgemacht. Er hat sich in Bewegung gesetzt. Und das Gegenteil von Bewegung ist die Trägheit.

Trägheit, ja Faulheit, ist die dritte Gestalt der Sünde. Und auch ihre Gestalt ist vielfältig. Sie reicht von der körperlichen Trägheit, die auf Kosten der Umwelt geht, bis hin zur religiösen Trägheit, die Gott einen guten Mann sein lässt und sich nicht um ihn kümmert.
Auch das merken und registrieren unsere Kinder sehr genau.
Sie merken, ob ihre Eltern engagiert sind, und sie registrieren, wie sie es mit dem Glauben halten. Und je nach dem werden sie beeinflusst. Entweder zur dumpfen, selbstgenügsamen Trägheit, oder zur wachen und engagierten Nachfolge. Zur Bewegung auf der Spur Jesu in seinen Fußstapfen.

Freilich, diese Spur kann auch ins Leiden führen. Der irdische Lebensweg Jesu endete ja auch im Leiden und im Tod.
Und so wird jeder Lebensweg, auch der unserer Kinder, im Tod enden und mehr oder weniger leidvoll sein.
Endet damit auch die Spur Jesu?
Ist die letzte Gewissheit des Lebens der Tod?

Der Weg Jesu war am Kreuz jedenfalls noch nicht zu Ende.
Seine Fußstapfen führen über Golgatha hinaus.
Der Auferstandene ist seinen Jüngern noch vierzig Tage lang von Ostern bis Himmelfahrt erschienen. Und er hat eine deutliche Spur hinterlassen.
Es ist die Spur der christlichen Hoffnung.
Es ist die Spur der Gewissheit, dass es mehr gibt als diese Welt, mehr als das Leben in Lüge, Vergeltung und Trägheit,
mehr als das Sterben in Leid und Verzweiflung.
Die Ahnung, dass es eine Dimension gibt, die über unsere Wirklichkeit hinausgeht, diese Ahnung trägt jeder Mensch in sich. Und nun geht es darum, diese Ahnung zur Gewissheit werden zu lassen. Das ist ein wichtiger Punkt für die gesamte Lebenseinstellung. Denn wenn ich die Gewissheit des ewigen Lebens im Herzen habe, kann ich das zeitliche Leben freier leben – gewaltfreier, sorgenfreier, angstfreier.

Wer hier in dieser Welt in den Fußstapfen Jesu geht, wer Wahrheit, Vergebung und Nachfolge ernsthaft lebt, der wird die Spur Jesu auch im Tode finden.
Nachfolge hört auf dem Sterbebett nicht auf, denn die Fußstapfen Jesu führen uns über den Tod hinaus.
Und die letzte Gewissheit eines christlichen Lebens ist darum nicht der Tod, sondern das ewige Leben bei Gott.

Amen.

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