Miserikordias Domini (30. April 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dorothea Schlatter, Ludwigsburg [Dorothea.Schlatter@elkw.de]

Ezechiel 34, 1-16; 34, 31

Es gibt immer Menschen, die mächtig sindOft wird ihnen viel Macht von anderen übertragen. Und manche ermächtigen sich auch selbst. Die Frage für mich ist: Wie gehen sie mit der ihnen anvertrauten Macht um? Ist es ihnen bewusst, dass die Macht nur geliehen ist? Nutzen sie ihre Macht, um den Wohlstand aller zu vermehren oder nutzen sie sie, um ihre eigene Macht noch weiter auszubauen, um ihren eigenen Nutzen zu vergrößern, ihre Ehre zu suchen? Bedienen sie sich der Religion, um ihren Machtmissbrauch zu verkleiden? Nutzen sie die Macht, um verantwortliche Entscheidungen zu treffen? Zentrale Fragen, wenn es um das Wohl oder Wehe eines Volkes geht. Haben sie diejenigen im Blick, über die sie Macht haben oder handeln sie so, wie es Franz Kamphaus beschrieb: Es gibt zwei Arten von Hirten. Diejenigen, die sich für die Wolle interessieren, und diejenigen, die sich für das Fleisch interessieren. Keiner interessiert sich für das Schaf.
Das Bild des Hirten ist ein altes Bild für die Verantwortungsträger einer Gemeinschaft und auch für Gott selbst. Und schon früh im altorientalischen Raum ist es auch ein Gegenbild zu den politischen und militärischen Führern.

Wie ging es Ihnen beim Lesen oder Hören des Textes?Haben Sie bei den ersten Versen auch an Mächtige gedacht, die ihre Macht missbrauchen? Leute, die sich und ihren Clan bereichern, indem sie ihr Volk ausnehmen? Sind Ihnen Machthaber eingefallen, die all die Menschen aus dem Weg räumen, die sich ihnen entgegenstellen? Oder Leute aus der Wirtschaft, die Konzerne an die Wand fahren und noch schnell das Vermögen ins Trockene bringen? Oder Banker, die mit verantwortungslosen Spekulationen das Geld anderer vernichten? Daran wird deutlich, dass das Bild vom Hirten und der Herde nicht antiquiert und verstaubt ist, sondern tief in uns verankert ist. Es ist da, selbst dann, wenn wir es nicht gut oder unzutreffend finden.

In was für eine Situation hinein wurde es zu seiner Zeit gesprochen?Hesekiel ist ein Prophet des 6. Jahrhunderts vor Christus. Im Auftrag Gottes rechnet er mit den politischen und religiösen Machthabern Israels ab. Sie bezeichnen sich selbst – orientalischer Gepflogenheit nach – als Hirten. Doch sie haben in ihre eigene Tasche gewirtschaftet und die Schafe, das Volk, haben das Nachsehen. So kündigt er ihnen an, dass Gott diesen Hirten ein Ende machen und die Schafe wieder zu ihrem Recht bringen will.

Was war geschehen?Jerusalem mit dem Südreich Juda wurde von den babylonischen Herrschern liquidiert. Die „Oberen Zehntausend“ samt den Handwerkern als begehrten Experten wurden nach Babylon deportiert. Auch Hesekiel befindet sich in babylonischer Gefangenschaft. Und Jerusalem samt Tempel liegt in Trümmern, zerstört von babylonischen Truppen. Einen Grund für das Desaster sieht Hesekiel im Versagen der Mächtigen, der Könige Israels. Denn die Schmach durch die Babylonier war keine Naturkatastrophe, sondern Ergebnis selbstbezogener und verantwortungsloser Entscheidungsträger. In den Worten des Propheten schwingt auch die Enttäuschung und Wut des Volkes mit.
Doch es bleibt nicht beim Protest, Gott selbst übernimmt die Macht, er fordert Rechenschaft und wird zur Verantwortung ziehen. Und er verspricht, sich um die zerstreute, misshandelte Herde zu kümmern, sie recht zu weiden, die Menschen wieder in ihr Recht einzusetzen. Die Zerstreuung soll ein Ende haben, die Rückführung der Deportierten klingt an, eine Heimkehr mit einem Leben in Ruhe und Frieden erscheint am Horizont.

Wodurch zeichnet sich das Hirtenamt Gottes aus?Gott sucht die Verlorenen, aber er verfolgt sie nicht.
Gott bringt die Verirrten zurück, aber er zwingt sie nicht.
Gott verbindet die Verwundeten, aber er bindet sie nicht an sich.
Gott stärkt die Schwachen, aber er bestärkt sie nicht in ihrer Schwachheit.
Gott behütet die Starken, aber er hütet nicht ihre Stärke.

Den falschen Hirten wird das Ende ihrer Herrschaft angesagtUnd folgen darauf dann bessere Hirten? Die Bibel ist da ganz realistisch. Wirklich selbstlose Hilfe erwartet sie allein von Gott selbst. Doch Gott greift nicht einfach in die Geschichte ein und holt die Verbannten nach Hause. Die politischen Konstellationen veränderten sich, eine neue Politik ermöglichte den Deportierten nach Jahren die Rückkehr. Gottes Handeln ist oft nicht einfach einsehbar. Er lässt Menschen selbst agieren und begleitet uns auch auf harten, schmerzhaften Wegen. Und er hat schließlich den guten Hirten in die Welt gesandt, der sich um das Verlorene und Schwache gekümmert hat. So hören wir das heute und berufen uns auf Jesus Christus, der es erlebbar werden ließ, was es heißt, wenn einer sein Hirtenamt bis zur letzten Konsequenz ausführt. Er stellte sich in den Dienst des Lebens und stellt den Weg und die Verbindung zu Gott her. Er praktizierte die Liebe Gottes und richtete Kranke, Verzweifelte, Einsame und Übersehene auf. In seiner Nachfolge haben immer wieder Menschen sich in dieser Art des Hirtenamtes geübt – ob als Vater und Mutter, als Lehrende, in der Diakonie oder in der Verantwortung für Stadt und Gemeinde.

Und was ist mit uns?Ganz unbekümmert können wir diese Worte nicht auf uns beziehen. Sie gehören nicht uns, sie sind nicht einfach auch an uns gerichtet. Was uns verbindet, ist eine tiefe Sehnsucht und der Wunsch nach geschützt werden, aufgehoben und geborgen sein in der Gruppe, auch wenn das in der Realität oft so nicht erlebbar ist. Genährt wurde die Sehnsucht durch so vertraute Bilder wie das des guten Hirten aus Psalm 23. Da ist die Rede vom Ort, an dem ich sicher bin, an dem mir nichts passieren kann. Ich bin nicht allein. Da werde ich versorgt, und da ist einer, den kümmert es, wie es mir geht. Gestillt wird die Sehnsucht, beachtet zu werden, gekannt und geliebt.

Wen weiden wir und wie?Ich bin davon überzeugt, dass wir zunächst einmal unsere eigenen Hirten sind und da lohnt es sich zu überlegen, ob ich mir ein guter Hirte bin. Sorge ich gut für mich? Nehme ich meine Bedürfnisse wahr? Wie gehe ich mit mir um, wenn ich schwach bin oder krank oder alt und nicht so kann, wie ich gerne wollte? Strebe ich danach, möglichst bald wieder fit zu sein? Und wenn das nicht gelingt, halte ich es dann aus, dass mir weniger Kraft zur Verfügung steht als früher? Lerne ich haushalten mit meinen Kräften oder klage ich enttäuscht, dass alles weniger und schlechter wird? Und wie gehe ich damit um, wenn mir Macht anvertraut ist?
Als guter Hirte, gute Hirtin meiner selbst bin ich dann gefragt, ob ich ernsthaft für andere da sein will. Bin ich bereit, mich dafür einzusetzen, dass nicht nur meine Sehnsucht gestillt wird, sondern auch die meines Nächsten? Setze ich meine Macht ein zum Schutz und zur Hilfe für Schwache? Erhebe ich meine Stimme für Menschen, die keine Lobby haben? Bin ich mir bewusst, dass alle meine Macht stets geliehen ist und ich mein Handeln zu verantworten habe? Das ist unsere Chance: eigenes Handeln und Denken immer wieder zu hinterfragen, am Maßstab auszurichten und trotz Fehlern immer wieder neu dem guten Hirten Jesus nachzufolgen. Amen.

Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus: Gott dienen ist höchste Freiheit, Deo servire summa libertas, III.2, Hrsg. Walter Schlenker; Werkstatt für Liturgie und Predigt, Heft 2/2005, Bergmoser + Höller Verlag.

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