Neujahrstag (01. Januar 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrer Christoph Hoffmann-Richter, Stuttgart [Christoph.Hoffmann-Richter@elkw.de]

Josua 1, 1-9

Liebe Gemeinde,

nachdem wir in den letzten Tagen und noch gestern Abend zurückgeschaut haben auf das vergangene Jahr, die Höhepunkte und, ja, auch die Tiefpunkte noch einmal haben an uns vorüberziehen lassen, sehen wir jetzt nach vorne. Das neue Jahr liegt vor uns wie ein weites unbekanntes Land. Manches davon ahnen wir voraus. Überwiegen bei den Einen hoffnungsfrohe Erwartungen, so bei Anderen Ungewissheit oder gar dunkle Vorahnungen. – Für uns alle aber schallt aus der Mutrede an Josua laut und deutlich heraus: „Sei getrost und unverzagt!“ – Und nochmal: „Sei getrost und ganz unverzagt!“ – Und zum dritten Mal: „Ich habe dir geboten, dass du getrost und unverzagt sein sollst. Lass dir nicht grauen und entsetzte dich nicht; denn der Herr, dein Gott, ist mit dir in allem, was du tun wirst.“

Ermutigung in VerzagtheitJa, das ist ermutigend. – Aber muss da nicht auch viel Verzagtheit und Unsicherheit sein, wo einem das gleich dreimal gesagt werden muss? Im großen Erzählstrang vom 1. Buch Mose bis zu den Königsbüchern steht diese kräftige Ermutigung für Josua an einer entscheidenden Schwelle. Schon viele Generationen zuvor hatte Gott den Erzvätern und -müttern das Gelobte Land versprochen, dann war die Großfamilie Jakobs nach Ägypten verschleppt worden, sie waren unter spektakulären Umständen aus widrigsten Verhältnissen in die Wüste entkommen, um dort im Bundesschluss am Sinai mit ihrem Gott und miteinander zusammenzufinden. Während der Wüstenwanderung waren schon einmal Kundschafter ins noch unbekannte Land geschickt worden, die waren euphorisch und verängstigt zugleich zurückgekommen: Es ist ein phantastisches Land, aber auch: Es ist bewohnt, und die dort leben, sind uns in allen Belangen haushoch überlegen, gegen die sind wir chancenlos. Die Bedenkenträger setzten sich durch, es folgte die 40-jährige Wüstenwanderschaft. Doch jetzt stehen sie alle mit weichen Knien an der lang ersehnten, aber eben doch noch immer gefürchteten Schwelle zum verheißenen Land. Und der Übervater und Gottvermittler Mose ist nicht mehr dabei. Wenn der es nicht dorthin geschafft hat, wie soll es ohne ihn gehen?

Gabe und AufgabeDie Beschreibung des Neulands, da zuckt man unwillkürlich zusammen: Es reicht von der Wüste bis zum Libanongebirge und vom Euphrat im Nordosten bis zum Mittelmeer. Ich habe nochmal auf der heutigen Landkarte nachgesehen: Das ist außer Israel einschließlich des Gazastreifens im Norden der Libanon, große Teile Syriens und noch ein Teil des heutigen Irak. Das entspricht dem Großreich Israel unter Salomo, wie es für wenige Jahrzehnte nur bestand, dann aber nach und nach bis etwa 600 v. C. zerfiel und bis 1948, und da freilich nur zu einem kleinen Teil, nie mehr staatliche Eigenständigkeit erlangte. Ist es die Unverzagtheit eines bis an die Zähne bewaffneten modernen Staates Israel, das diese alte Mutrede an Josua beschwören soll? – Aber bevor sich Empörung breitmachen will, machen wir uns klar, dass die große Erzählung in ihrer jetzigen Fassung zu einer Zeit entstand, als es Israel als ganzes schon nicht mehr gab und das kleine Juda von einer Großmacht besetzt war. Und rufen wir uns in Erinnerung, dass die Inbesitznahme des Landes gebunden wird an die Beachtung der Gebote vom Sinai: Weiche davon nicht ab, weder nach rechts noch nach links, damit du recht ausrichten kannst, wohin du gehst. Und nochmal: Behalte dieses Gesetz sorgfältig und erinnere es regelmäßig, betrachte es Tag und Nacht, dass du es hältst und tust in allen Dingen!

Und was steht in diesem Gesetz? Zum Beispiel das erste Gebot: Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus der Schuldversklavung in Ägypten befreit hat, du sollst keine anderen Götter neben mir haben! Zum Beispiel: Bedrücke den Fremden nicht, der bei dir wohnt im Land, bist du doch auch ein Fremder gewesen in Ägypten. Und zum Beispiel: Übt Erbarmen, denn ich bin ein Gott, der Erbarmen übt. Kurz: Zu dem Mut und der Unverzagtheit, das Neuland zu betreten, gehört auch die entschiedene Orientierung an den Werten und Weisungen des Gottes, der rettet und heilt und Gerechtigkeit schafft. Im Gesetz, den fünf Büchern Mose, werden mit dem großen Vertrauen auf Israels Gott Recht und Erbarmen verknüpft. Ihr sollt Erbarmen üben, denn ich übe Erbarmen, spricht der göttliche Gesetzgeber. Das ist eine soziale Grundlage für das Leben in einem Land, für das Israel Verantwortung übernimmt. Jesus hat diese Auffassung übernommen: Seid barmherzig wie euer Vater im Himmel barmherzig ist. Land wie Lebenszeit sind Gabe und Aufgabe.

Ich erinnere mich an eine Patientin auf einer psychiatrischen Station. Sie war viele Wochen in der Klinik gewesen und ihre Entlassung kam näher, sehnlich erwartet und gefürchtet. Da gestaltete sie sich ein großes Plakat, das neben grafischen Elementen eine Reihe von Wörtern enthielt: Mut – Hoffnung – Vertrauen – Zuversicht. Aber es standen auch andere Wörter drauf: Verzicht – Enthaltsamkeit – Disziplin. Auch die waren für sie Freiheitswörter, für sie gehörten diese Begriffe alle zusammen. Die Disziplin war eine Stütze für die Hoffnung, der Mut eine Grundlage für den Verzicht. Sie bereitete sich vor auf die Zeit da draußen, in dem Land, das vor ihr lag. Sie fühlte sich ermutigt, aber mitten in einem großen Zutrauen auch selbst beteiligt, gefordert, als Teil der Ermutigung.

Gemeinsam unterwegsEs wird nicht immer ein Spaziergang werden. Wir haben eine Gabe, aber wir haben auch eine Aufgabe. Wir haben Eigentum und Gaben bekommen – ja, bekommen, achtmal ist im 1. Kapitel des Josuabuches vom verheißenen Land als „Gabe“ die Rede –, aber wir haben auch Verpflichtungen übernommen. Der Einzelne wird immer in der großen sozialen Verbundenheit gesehen; die Anrede an Josua und an das Volk changieren im Text, einmal ist er, dann wieder das Volk angesprochen. Gabe und Verpflichtung gelten beide auch für sie alle. Und die Ermutigung erst recht, sie gibt Josua nachher gleich an die anderen weiter: „Seid getrost und unverzagt.“ Wir leben unser Leben – unverzagt und mutig – nicht allein, sondern in einer Gemeinschaft mit anderen, in ihr umso mutiger. Wir haben Gaben und Talente, um sie zu gebrauchen, füreinander und für die anderen auch, auch für die Fremden. Vor uns liegt ein weites Land, machen wir uns getrost auf den Weg, in großem Vertrauen.

Sei getrost und unverzagt! Mach dich auf den Weg ins Unbekannte, du bist begleitet, du gehst nicht allein – mehrfach wird Josua auch dies gesagt. Scheue dich nicht, Fehler zu machen oder Anstoß zu erregen, das wird nicht ausbleiben. „Pecca fortiter“, hat Martin Luther gesagt, „sündige tapfer“, nimm in Kauf, dass es auch danebengeht. Aber geh mutig los – du gehst behütet! Der versprochene Erfolg ist nicht der, keine Fehler zu machen. Der versprochene Gewinn ist nicht der, mühelos ans Ziel zu kommen. Es wird Schrammen geben. Auch die Verfasser der großen Erzählung Israels wussten schon, wie es weiterging, wie viel Misslingen und Versagen noch folgen würden. „Es soll dir gelingen“, ja, aber nicht im Sinne eines Wünsch-dir-was-Wegs. Die Zukunft ist kein Land der Garantien und der Sicherheiten. Die Zukunft ist ein Land des Vertrauens, des Muts und der Hoffnung. Auch ein Land der Überzeugungen, der Haltung und des Handelns. Mag auch Scheitern dabei sein.

Sei getrost und unverzagt!Im Kleinen kann man die Erfahrung auch selbst machen: Wer unverzagt und nach bester Überzeugung lebt und handelt, der kann getrost sein. Nicht dass er keine Fehler machen würde. Nicht, dass er schmerzfrei davonkäme. Nicht dass es für ihn immer schneller, höher, weiter gehen würde. Paulus schreibt einmal: „Wir sind von allen Seiten bedrängt, aber wir ängstigen uns nicht. Uns ist bange, aber wir verzagen nicht. Wir leiden Verfolgung, aber wir werden nicht verlassen. Wir werden unterdrückt, aber wir kommen nicht um.“

Seien wir also getrost und ganz unverzagt. Machen wir uns mutig auf den Weg ins vor uns liegende neue Jahr. Halten wir fest am großen Vertrauen, von dem Martin Luther sagt, es sei „eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade… Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und lustig gegen Gott und alle Kreaturen.“ Amen.


Verwendete Literatur:
- Wilhelm Hertzberg, Das Alte Testament Deutsch, Band 9: Die Bücher Josua, Richter, Ruth, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 5. Aufl. 1973.
- Hans-Jürgen Zobel, Artikel Josua/Josuabuch, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 17, S. 269-278.
- Hermann Barth, Ich möchte gern ‚Unverzagt‘ heißen, Predigt über Josua 1,1-9, in: Im Namen Gottes, 4. Perikopenreihe, hg. v. Christoph Dinkel, Stuttgart: Radius, 2011, S. 76-82.
- Michael Welker, Gottes Geist, Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1992.


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