Neujahrstag (01. Januar 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrerin und Studienrätin Stephanie Kscheschinski, Lörrach [stephanieloeffler@t-online.de]

Philipper 4, 10-13

IntentionIch darf über mich nachdenken, über meine Wünsche und Hoffnungen, auch über meine Ängste. Und ich darf erfahren, dass mich Gott immer unterstützt.

4,10 Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat’s nicht zugelassen. 11 Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie’s mir auch geht. 12 Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; 13 ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.

Liebe Gemeinde!
Vollmundig tritt Paulus hier auf. Und man kann fast das Gefühl haben, als spräche er hier ein wenig von oben herab. Denn Paulus betont das „Ich“ sehr stark. „Ich bin hocherfreut in dem Herrn! Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide! Ich habe gelernt mir genügen zu lassen! Ich kann niedrig und ich kann hoch sein; mir ist alles vertraut! Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht!“
Oder will er uns gerade Mut machen, am ersten Tag im neuen Kalenderjahr über uns selbst nachzudenken? Denn das Jahr wechselt, und wir wandern mit von einem Jahr ins andere, aber wir nehmen unser Ich mit. Wir können unser eigenes Ich nicht einfach abstreifen. Wir müssen mit uns selbst zurechtkommen und auch im neuen Jahr Wege suchen und finden, die wir gehen können. Denn es liegt ein schweres Jahr hinter uns, weltweit. Die Coronapandemie hat uns fest im Griff gehabt und uns allen sehr viel abverlangt. Manche Menschen haben das Coronageschehen als den großen Fingerzeig Gottes interpretiert. Andere haben der Entschleunigung durchaus Positives abgewinnen können. Andere fühlten sich mit ihrem Ich zu alleine und haben sehr stark unter der sozialen Distanz gelitten. Wenn das ganze Coronageschehen im persönlichen Leben etwas Gutes gehabt hat und noch hat, dann vielleicht, dass man sich über sein eigenes Ich Gedanken macht. Dass man Klarheit erlangt, was einem wichtig ist im Leben, was man braucht, worauf man auch verzichten kann. Und dabei lernt man sich selbst durchaus besser kennen, denn das eigene Ich ist ein weites Land. Da weiß man nicht über jede Region Bescheid. Und manche Region wird auch erst in der Krise sichtbar. Aber die Möglichkeit, über das eigene Ich nachzudenken, ist durchaus ein Privileg. Es ist keine Entdeckung der modernen Philosophie oder Psychologie; bereits in der Bibel, in den Psalmen, entdecken wir diese Menschheitsfrage. So heißt es in Psalm 139,1: „Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich gehe oder liege, so bist du um mich.“
Auch unser Predigtabschnitt aus dem Brief des Paulus an seine Freunde in der Gemeinde in Philippi ist ein Beweis für die Entdeckung des eigenen Ich. „Ich bin hocherfreut in dem Herrn!“ so schreibt Paulus. Was wir spüren können, ist, dass er genau das auch empfindet und es eben nicht von oben herab meint. Er empfindet große Freude in seinem Herzen, das von Gott dem Herrn angerührt wurde. Und er hat die Erfahrung gemacht, dass die Freunde in Philippi ihn unterstützt haben, durchaus finanziell und materiell. Und so kann uns Paulus Mut machen, heute am Neujahrsmorgen „Ich“ zu sagen und das Land unseres eigenen Ichs zu beschreiten.

Ich habe gelernt, mir genügen zu lassenPaulus schreibt diese Zeilen als Gefangener. Wieder einmal wurde er von den römischen Behörden gefangengenommen und ins Gefängnis gesperrt, weil seine christliche Mission Verdacht erregt hat. Im Gefängnis lernt er „sich genügen zu lassen“. Er sagt: „Ich kann niedrig sein und ich kann hoch sein, mir ist alles und jedes vertraut; beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden.“
Das wirkt sehr austariert, wie eine schwebende Schaukel auf dem Kinderspielplatz, wenn sie waagrecht in der Luft steht.
Wer kann das von sich schon sagen, dass er so austariert ist? Und das angesichts der Gefangenschaft in einem römischen Kerkerloch wie im Fall des Paulus? Das ist wirklich eine bemerkenswerte Leistung.
Die Coronakrise hat vielen von uns das Gleichgewicht entzogen, uns oft an die Grenzen unserer Belastbarkeit gebracht. Da waren plötzlich Beschränkungen in vielen Lebensfeldern auf dem Plan. Angst vor dem Virus. Die völlige Unkalkulierbarkeit, wann der Schrecken ein Ende haben wird. Finanzielle Nöte. Die Kinder allein zu Hause vor den PCs im Fernunterricht. Manche mussten Homeoffice für sich erlernen. Onlinemeetings hier und da. Maskenpflicht an allen Orten. Begegnungen, die uns sonst so selbstverständlich sind, mussten unterlassen werden.
Wenn wir dem etwas Positives abgewinnen können, dann vielleicht das Nachdenken darüber, was uns wirklich wichtig ist. Was genügt uns? Muss es immer mehr Konsum sein? Das immer schnellere Auto, die teuerste Mode, die exquisitesten Reiseziele, die speziellsten Restaurantbesuche? Oder haben wir gerade auch als Christinnen und Christen noch die Freiheit, in unserer Gesellschaft uns an anderem genügen zu lassen? Zum Beispiel an der familiären Gemeinschaft, an der Treue von Freundschaften und der Zugehörigkeit zur Kirche Jesu Christi? Es wird ja oft die Frage gestellt: Was macht uns zufrieden? Was macht uns glücklich? Übermäßiger Konsum ist es nicht. Daher verstehe ich Paulus hier weder als Asketen, der gar nichts genießen will, noch als reinen Genussmenschen, der nur dem Konsum hinterherrennt. Er wirkt auch hier sehr austariert und ausgeglichen auf mich, wenn er sagt: „Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie`s mir auch geht.“

Ich vermag alles durch den, der mich mächtig machtPaulus schreibt kurz und bündig: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht!“ Das ist eine klare Ansage. Wie oft sehnen wir uns nach solchen klaren Ansagen. Als 2015 die Flüchtlingswelle auf uns zukam und die Kanzlerin die klare Ansage machte: „Wir schaffen das!“, war man geneigt, das gerne zu glauben und einen Hoffnungsschimmer zu sehen, der Machbarkeit, Stärke und Energie mitteilt.
Viele Menschen sagen nach dem Lockdown im Frühjahr und auch nach den verschärften Regelungen im November und Dezember: „Das ist sicher alles richtig, dass wir uns einschränken müssen. Aber es quält mich so, dass ich kein Ende sehe. Wann endlich wird der Spuk vorbei sein?“
Bei Paulus gewinne ich den Eindruck, dass er im Gefängnis sitzt und nicht fragt: Wann wird meine Gefangenschaft vorbei sein?
Sondern er sagt: Ich schaffe das, weil ich weiß, da ist einer, der mir die Kraft dazu gibt. Da ist einer, der mich in meiner schweren Situation mächtig und stark macht. Paulus beruft sich auf Jesus Christus selbst, der die Erfahrung des Todes und der Auferstehung gemacht hat und ihm, dem Apostel, so ein genügsames Herz schenkt.
Denn weil sich Paulus ganz auf Jesus Christus verlässt, kann er ruhig sein und Kraft schöpfen.
Das wäre schön, wenn wir das auch so könnten! Wenn wir in aller Ruhe, mit einem zuversichtlichen Herzen, von einem Jahr ins andere gleiten könnten.
Vielleicht können wir es nicht sofort. Vielleicht müssen wir es immer wieder geduldig einüben: Sorgen und Ängste loslassen, aufhören mit kreisenden Gedanken über die schlimmsten Ausgänge dessen, was uns im Leben so zugemutet wird.
Das neue Jahr liegt nun vor uns. Zwölf Monate, 365 Tage, geschenkte Zeit. Paulus schreibt an seine Freunde in Philippi: „Ich bin hocherfreut in dem Herrn!“ Diese Freude soll uns anstecken und stark machen, allem zu begegnen, was wir im neuen Jahr zu meistern haben. Denn mit der Geburt Jesu Christi an Weihnachten ist diese Freude bereits in unsere Welt gekommen. Noch spüren wir den Zauber der Heiligen Nacht. Die Freude über das Kind in der Krippe soll uns fröhlich machen und eine Leichtigkeit für das neue Jahr schenken, die wir so nötig haben.
Es könnte uns helfen, wenn wir immer wieder den ersten Vers des schönen Weihnachtsliedes von Paul Gerhard vor uns hin summen oder singen:
„Fröhlich soll mein Herze springen / dieser Zeit, da vor Freud / alle Engel singen. Hört, hört, wie mit vollen Chören / alle Luft laute ruft: Christus ist geboren!“ (EG 36,1)

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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