Neujahrstag (01. Januar 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]

Lukas 4,16-21

IntentionDie Predigt zielt darauf, den Sorgen und Ängsten, die sich im zu Ende gegangenen Jahr angehäuft haben, einen Hoffnungsanker entgegenzustellen und sich der Hoffnungszeichen zu erinnern, die immer wieder und oft unerwartet auftauchen.

4,16 Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um zu lesen. 17 Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht (Jes 61,1-2): 18 »Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit 19 und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.«
20 Und als er das Buch zutat, gab er’s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. 21 Und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.


Liebe Gemeinde,
Jesus übernimmt im Synagogengottesdienst die Schriftlesung. So weit, so normal. Er liest die altehrwürdigen Worte des Propheten Jesaja. Sogleich taucht bei den Zuhörern die Frage auf: Wann? Wann wird es endlich so sein, dass Frieden einkehrt? Dass die Gewalt aufhört? Dass jeder Mensch genug hat zum Leben?
Am Ende, nach der Lesung, schaut Jesus die Leute an und sagt Ihnen: „Heute!“ Heute ist erfüllt, was der Prophet vorausgesagt hat.
Das ist echt ein starkes Stück. Wie kann er denn so etwas behaupten. Ungläubige Blicke treffen ihn. Man kann es buchstäblich ablesen auf den Gesichtern: „Was redest du da? Wo ist es denn, das Reich Gottes? Hör doch auf, Märchen zu erzählen. Schau dich doch um: Nichts ist gut. Gar nichts! Und es wird auch nicht besser, nur weil du es behauptest!“
Auch wir glauben nicht im Ernst daran, dass heute alles besser ist, nur weil gestern das alte Jahr mit allem Schrecklichen zu Ende gegangen ist.

Jedem Anfang wohnt das Ganze inneWir wissen aber auch, dass wir in schwerer Zeit schon das kleinste Hoffnungszeichen gerne gleich für das Ganze nehmen, als wäre es schon da. Wenn ein Mensch eine lebensbedrohliche Krankheit durchmacht, dann hört er ganz genau hin, ob nicht ein kleines Zeichen für Besserung zu bemerken ist. Und wenn es so ist, dann schlägt die Stimmung ganz schnell um. Dann werden wieder Pläne gemacht für schöne Unternehmungen oder für die Arbeit, als wäre die Krankheit bereits überwunden, als wären die Kräfte schon wieder da.

Ich will Ihnen dazu eine kleine Begebenheit erzählen.
Ein Ehepaar hat einen kleinen Jungen adoptiert. Er war noch kein Jahr alt, als er zu ihnen kam. Er hat in seinem ersten Lebensjahr viel Schlimmes erleben müssen. Er war nicht geliebt. Er wurde herumgestoßen, vernachlässigt, missachtet. Er wurde mal hier und mal da untergebracht. Niemand wollte ihn leiden. Es gab niemanden, der ihm mal ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. Nichts war gut.
Doch dieses Ehepaar nahm ihn zu sich. Sie glaubten, sie könnten es schaffen, diesem kleinen Menschenkind ein Zuhause zu geben, sein Vertrauen zu gewinnen und ihm liebevoll den Weg ins Leben zu öffnen.
Monate vergingen. Es war schlimm. Immer wieder zweifelten die Adoptiveltern, ob es ihnen wirklich gelingen würde. Besonders die Mutter zweifelte immer mehr. Sie zweifelte an ihren eigenen Fähigkeiten. Hatte sie wirklich genug Liebe, um das Vertrauen des Buben zu gewinnen?
So vergingen die Wochen und Monate, bis der zweite Geburtstag kam. Sie hatte sich ein besonderes Geburtstagsgeschenk ausgedacht. Sie schenkt ihm eine kleine Staffelei, Papierbögen, Farben und Pinsel. Sie lässt den Jungen erstmal damit allein. Eine Stunde lang ist alles still. Nichts hört sie aus dem Kinderzimmer.
Und dann plötzlich hört sie seine Stimme: „Mama, Mama, komm schnell!“ Sie öffnet die Tür. Und da steht er mit einem großen Pinsel in der Hand. Und er strahlt sie an. Er zeigt auf das Bild auf der Staffelei. Und sagt: „Mama, das Bild schenk ich dir.“
Ein Stein fällt ihr vom Herzen. Es ist geschehen. Die Augen, mit denen er sie anstrahlt, sagen alles. Sie nimmt ihn in den Arm. Es macht ihr nichts aus, dass die Farbe vom Pinsel ihre Bluse verschmiert. Tränen fließen. Lange halten sie sich in den Armen. Worauf sie so lange gewartet hat, ist erfüllt: Eine innige Beziehung ist entstanden. Alles wird gut.
Die Adoptivmutter hat in diesem Anfang bereits das Ganze gesehen, das, worauf sie schon lange gewartet hat und schier verzweifelte. Sie weiß, dass noch viel Mühe vor ihr liegt. Sie weiß, dass sie noch manche Enttäuschungen ertragen muss und manche Rückschläge. Aber sie fühlt, dass sie die Kraft dafür hat.

Das alte Jahr vergangen istWir sind heute Morgen in einem neuen Jahr aufgewacht. Es fängt so an, wie das alte aufgehört hat. Nichts hat sich zum Guten gewendet. Wir alle sehnen uns danach, dass die Mächtigen aufhören mit ihren Zerstörungen. So viele Gefangene, Misshandelte und Verschleppte sehnen sich danach, wieder Licht zu sehen und in die Heimat zu kommen. So viele Menschen sehnen sich nach liebevollen Berührungen, nach einem Augenblick, der ihre Hoffnung nährt.
Und mitten in dieser Sehnsucht hören wir aus Jesu Mund: „Das alles ist erfüllt!“
Gott nimmt den kleinen unscheinbaren Anfang für das Ganze, das er mit seinen Menschen vorhat. So wie in einem Weizenkorn bereits alles enthalten und vorgebildet ist, was zur Ernte der Frucht nötig ist. So wie die Mutter in dem einen Augenblick das große Vertrauen sieht und spürt, das der Bub in sich trägt.
Aber wie sehr ist das, was da gekeimt ist, gefährdet. Wieviel Sorgfalt ist nötig, dass aus einem Keim wirklich das Ganze wachsen kann. Unter schwäbischen Obstbauern gibt es das Sprichwort: „Do Bluscht kasch et mosta.“ Auf Hochdeutsch: „Aus der Blüte kannst du keinen Most machen.“ Und trotzdem hört keiner auf, die Bäume zu pflegen, zu düngen, und wenn nicht für die Ernte dieses Jahr, dann doch für die Ernte im nächsten oder übernächsten Jahr.

Jesus hat den Keim der Hoffnung ausgesät„Heute ist dies alles vor euren Ohren erfüllt.“ „Vor euren Ohren.“ Gehört habt ihr es. Jetzt kommt es darauf an, dass ihr es auch noch mit euren eigenen Augen seht. Was man vom Hörensagen meint zu wissen, das kann sich als Täuschung entpuppen. Man muss es selbst gesehen haben. Darum soll jeder, der Jesu Worte gehört hat, sich umschauen und sich auf die Suche machen: Wann habe ich etwas erlebt, was der Anfang einer guten Entwicklung sein könnte? Das kann im eigenen Leben sein. Da brodelt seit Jahren ein hässlicher Streit vor sich hin. Zwischen Nachbarn oder zwischen Geschwistern. Man geht sich aus dem Weg. Man redet kein unnötiges Wort miteinander. Nur wenn man unter sich ist, dann schimpft man über die da. Und auf einmal, mitten im Sommer, stellt die Nachbarin einen Korb voll Tomaten auf die Türschwelle. Da bleibt einem doch nichts anderes übrig, als rüberzugehen und Danke zu sagen. Und vielleicht auch noch ein paar Sätze mehr. Ist es denn nicht so, dass in den herrlichen Früchten schon alles enthalten ist, was es braucht für ein friedliches Zusammenleben?
Oder: Ein Familienvater ist seit vielen Jahren gefangen in seiner Alkoholabhängigkeit. Es ist furchtbar für die Kinder. Große Dramen machen sie durch. Schreckliche Szenen zwischen den Eltern müssen sie mitansehen. Alle Bekannten und Verwandten wissen Bescheid. Aber keiner redet offen. Bis sich der Vorgesetzte des Alkoholkranken ein Herz fasst und lange mit ihm redet. „Karl-Heinz“, sagt er, „Karl-Heinz, ich weiß, dass du ein Problem hast. Pack es an. Mach eine Therapie. Und: Vor mir brauchst du nichts zu verstecken. Ich halt zu dir.“
Das war der Anfang. Dieses „Ich halt zur dir“. Der Weg war mühsam. Aber Karl-Heinz ist ihn gegangen. Er schloss sich auch einer Gruppe der Anonymen Alkoholiker an. Damit hatte er nicht nur einen einzigen Menschen, der zu ihm hielt, sondern zehn. Und sie halten immer noch zu ihm und er zu ihnen. Ist es nicht so, dass in diesem einen Satz schon alles erfüllt ist, was ein Mensch zur Heilung braucht?

Das Neue Jahr: Ein Gnadenjahr des Herrn„Heute ist dies alles vor euren Ohren erfüllt.“ In diesem Allem schließt Jesus etwas Besonderes ein: Es soll ein Gnadenjahr des Herrn werden. Das heißt, alles, was im Lauf von Jahrzehnten in Unordnung geraten ist, wird wieder zurechtgebracht. Auch in unserer Lebensweise, die wir uns seit Jahrzehnten angeeignet haben, ist ganz viel in Unordnung. Sie wissen es selbst: so viel Verschwendung. So viel gedankenlose Bequemlichkeit. So viel sinnloser Verbrauch unserer Lebensgrundlagen: Boden, Wasser, Luft, Energie. Die großen Rechnungen dafür kommen erst noch. Viele werden nicht wissen, wie sie sie bezahlen sollen.
Und niemand, auch die Regierungen nicht, kann einen Weg aufzeigen, wie das alles wieder zurechtgerückt werden kann.
Es liegt an uns allen und an jedem Einzelnen. Wir haben es aus Jesu Mund gehört: Gott selbst hat sich ein Herz gefasst. Er hält zu uns. Und darin ist schon alles enthalten, was uns zum Heil gereicht.
Darum: Geht unter der Gnade in dieses neue Jahr.
Amen.

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