Okuli / 3. Sonntag der Passionszeit (19. März 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Martin Weeber, Stuttgart [martin.weeber@elk-wue.de]

Markus 12, 41-44

Alles gegebenJesus ist ein guter Beobachter. Inmitten des ganzen Trubels, der im Tempel herrscht, nimmt er eine arme Witwe wahr. Doppelt ist sie ausgeschlossen aus der damaligen Gesellschaft. Sie hat keinen Mann, sie hat kein Geld. Übersehen zu werden: Das war das Schicksal solcher Frauen. Die Aufmerksamkeit richtet sich doch immer auf die, die etwas haben und etwas sind, die etwas gelten. Wer nichts ist und wer nichts hat, den nimmt man nicht wahr. Manche kennen dieses Lebensgefühl bis heute, anderen redet man es ein: Man nimmt mich nicht wahr, man schert sich nicht um mich – was ich tue, was ich sage, was ich denke: Das interessiert doch keinen.

Eine Aufforderung: Wahrnehmen und würdigenAber Jesus ist ein guter Beobachter. Er nimmt die Witwe wahr, und er nimmt sie würdigend wahr. Dem äußeren Anschein nach ist es völlig unbedeutend, was die Witwe tut. Auf die Füllung des Gotteskastens (wir würden sagen: des Opferstocks oder der Spendenbox) wirkt sich die Gabe der Witwe kaum aus. Sie treibt das Spendenbarometer nicht merklich in die Höhe. Die Augen des Fundraising-Teams bringt sie nicht zum Leuchten. Damals sammelte man das Geld im Tempel zur Finanzierung von Brandopfern. Heute sammeln wir in unseren Gemeinden Geld für die Renovierung der Orgel oder des Kirchturms oder aber auch für Zwecke außerhalb unsere Gemeinden, für die Diakonie etwa oder für ein missionarisches Unternehmen irgendwo in der weiten Welt. Wir freuen uns dann über große Gaben, und wir geraten dabei sehr schnell in Gefahr, die Geber dieser Gaben zu hofieren, uns bei ihnen ganz besonders zu bedanken – und darüber jene nicht genügend zu schätzen, die nur eine kleine Gabe geben können. In dieser Hinsicht sollen wir die Geschichte von der armen Witwe als Mahnung hören: Schätzt auch die, die wenig geben können – sei es an Geld, sei es an Zeit, sei es an anderweitiger Unterstützung.

Ein Ideal: Alles weggebenJesus ist ein ganz besonderer Beobachter. Er kann offensichtlich einen Blick tun, der uns verwehrt ist: Er schaut der Witwe gewissermaßen ins Herz. Er weiß, sie gibt ihr Letztes. Er weiß, sie gibt es für Gott.
Es ist ein feines Detail in dieser Erzählung: Die Witwe gibt zwei kleine Münzen, nicht nur eine. Man würde es der Witwe ja schon hoch anrechnen und als einen großen Beweis ihrer Gottesliebe ansehen, wenn sie von den beiden kleinen Münzen auch nur eine in den Opferkasten werfen würde. Man würde es ihr nicht verargen, wenn sie wenigstens ein Scherflein für sich behielte, es für den Lebensunterhalt des nächsten Tages übrigließe. Aber sie wirft beide Münzen hinein. Sie sorgt nicht für den morgigen Tag. Sie vertraut darauf, dass Gott ihr am nächsten Tag schon wieder etwas geben wird, um ihr Leben zu fristen.
Hierin ist die Witwe ein Vorbild rückhaltlosen Gottvertrauens. Alles weggeben, um von Gott jeden Tag neu wieder alles zu erwarten. Das widerspricht all unseren vernünftigen Vorsorgeidealen, unserem Lebensversicherungsleben, unseren Sparplänen, unserer Altersvorsorge. Immer wieder in der Christentumsgeschichte hat es Menschen gegeben, die ihrem Gottvertrauen auf solch radikale Weise Ausdruck gegeben haben, Bettelmönche etwa. Alles hinter sich lassen, radikal aussteigen, immer wieder alles neu vom Himmel erwarten.
Aber solche Lebensentscheidungen können immer nur die Lebensentscheidungen von Einzelnen sein. Trotzdem können solche radikalen Lebensentscheidungen wichtige Impulse für unser eigenes Nachdenken und für unsere eigene Lebensgestaltung bieten: Was brauche ich eigentlich an Besitz? Worauf könnte ich verzichten? Wie sehr hänge ich an meinem Geld? Bin ich einer, der gerne behält? Oder einer, der gerne und mit leichter Hand weggibt? Und: Was bin ich bereit, für Gott einzusetzen? Geld braucht er selber, bei Lichte besehen, ja nicht. Aber es gibt doch, um einen alten Ausdruck zu verwenden, viele „gottgefällige“ Zwecke, die ich mit meinem Geld oder mit meiner Zeit unterstützen kann. Wie viel würde ich einsetzen, um das zu unterstützen, von dem ich annehme, dass es Gott gefällt? Würde ich gar mein ganzes Leben für Gott einsetzen? Unter welchen Umständen würde ich das tun? Wenn man die Geschichte so betrachtet, dann bietet sie uns die Darstellung eines religiösen Ideals: völlige Hingabe an Gott.

Die große Erleichterung: Jesus gibt sich ganz für unsDie Geschichte lässt sich aber auch noch ganz anders lesen. Und dann wird es auch deutlich, warum wir diese Geschichte gerade in diesen Tagen, in der Passionszeit betrachten. Diese Geschichte redet nämlich gar nicht nur von der armen Witwe, sie redet auch von Jesus – und zwar von Jesus nicht nur als Beobachter und Deuter des beobachteten Geschehens. Die Geschichte redet davon, was bald geschehen wird. Sie redet davon, dass Jesus sein Leben dahingibt. Jesus gibt alles, er gibt sein Leben.
Um diese Pointe zu verstehen, müssen wir noch einmal kurz auf das Ende des Predigttextes schauen. Da wird über die Witwe gesagt, sie habe „von ihrer Armut ihre ganze Habe eingelegt, alles, was sie zum Leben hatte“. Und die letzten Worte dieses Sätzleins, die sind nun schon eine Deutung: Im griechischen Originaltext steht da nämlich, sie habe „ihr ganzes Leben“ gegeben. Wir übersetzen uns dann schnell den Ausdruck „Leben“ mit „Lebensunterhalt“, und dann passt es ja auch ganz gut. Aber wenn man es nun ganz ernst nimmt, dass man die Worte auch so verstehen kann, dass da ein ganzes Leben gegeben wird, dann ist man sofort bei der Lebenshingabe Jesu, von der die Passionsgeschichte uns erzählt. Und wenn Sie zuhause vielleicht noch einmal den Predigttext aufschlagen und nur ein kleines bisschen weiterblättern, dann sehen sie sofort: Kurz nach der Geschichte von der Witwe beginnt die Leidensgeschichte Jesu.
In dem, was die Witwe tut, sieht Jesus das vorweggenommen, was er bald auch tun wird: Er gibt sein Leben hin, er gibt es hin für uns. Und damit wird er etwas beenden, was in der Geschichte von der Witwe noch vorausgesetzt wird: Er wird die Vorstellung beenden, als könne unser Verhältnis zu Gott irgendwie durch Opfergaben von unserer Seite aus geregelt werden. Er selber bringt sich gewissermaßen als jenes Opfer dar, durch das alle menschlichen Opfergaben abgelöst werden.
Darüber nachzudenken bietet uns die weitere Passionszeit und bietet uns vor allem der Karfreitag noch manchen Anlass: Was es bedeutet, dass Jesus sich für uns hingibt. Und wovon und wozu uns seine Hingabe befreit.
Amen.

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