Okuli / 3. Sonntag der Passionszeit (20. März 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Werner Grimm, Tübingen [werner-grimm.verlag@t-online.de]

1. Könige 19,1-8

IntentionIch versuche, vor allem die seelsorgerlichen Aspekte des Erzähltextes auszuloten und verzichte um dieser Fokussierung willen auf eine Berücksichtigung von V.9ff.

Liebe Gemeinde!

Die Geschichte beginnt mit einer Szene im nordisraelitischen Königshaus, 1.Könige 19 (Verse 1-2):
„Und Ahab sagte Isebel alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert umgebracht hatte.
Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und ließ ihm sagen: Die Götter sollen mir dies und das tun, wenn ich nicht morgen um diese Zeit dir tue, wie du diesen getan hast!“

Sind Sie auch schon von einem Menschen regelrecht „verfolgt“ worden? Jemand hat uns den Krieg erklärt, will uns mit allen Mitteln fertigmachen – wenn wir uns dabei wenigstens unserer Unschuld sicher wären und alles Unrecht beim ‚Verfolger‘ läge – aber meistens spüren wir, dass wir schon auch an irgendeiner Stelle so etwas wie Mitschuld haben an seinem Hass; gewöhnlich verdrängen wir dann das schlechte Gewissen, denn sonst wäre alles erst recht nicht auszuhalten.
Elia hatte die Baals-Propheten töten lassen – ganz im Sinne JHWHs, des Gottes Israels, so dachte er. Denn die Propheten Baals waren gefährlich. Israel wäre nicht das Volk der Zehn Gebote geblieben, und die Zehn Gebote wären nicht Magna Charta des christlichen Abendlandes geworden, wenn die Baalspriester sich damals mit ihrer Vergötzung einer gewalttätigen Sexualität durchgesetzt hätten. Elia handelte durchaus in Übereinstimmung mit den im Alten Orient geltenden Gesetzen des Heiligen Kriegs. Und doch konnte seine Seele dabei nicht unverletzt bleiben. Wo Leben getötet wird, sei’s nach Sitte und Gesetz, sei’s für Gottes Ehre, sei’s in Notwehr, sei’s unabsichtlich – immer bildet sich eine Sphäre des Grauens. So schaudern wir als Autofahrer schon bei der Vorstellung, wir könnten ein Kind totfahren, das in die Fahrbahn springt; da hülfe es wenig, korrekt gefahren zu sein. Wenn Menschen nicht gänzlich verroht sind, dann behalten sie ein urtümliches Gefühl, dass alles Leben heilig ist, oder, wie Albert Schweitzer es in seiner ethischen Grundformel ausdrückte: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Elia dagegen war Handlanger des Todes geworden. Steht für einen, der sich am Leben so vergriffen hat, die Tür zum Schöpfer des Lebens überhaupt noch offen?

Ein Wort zu Isebel, der Königsgattin aus tyrischem Königshaus. Sie steht in unserer Geschichte für das, was eine Drohgebärde anrichtet. Die Drohgebärde ist der Einschüchterungsversuch der Mächtigen oder derer, die ein bisschen mehr Macht haben. Ich zeige, was ich bei Bedarf könnte. Der andere wird dann klein vor Furcht und gefügig. In der großen Welt sieht eine solche Drohgebärde heute z.B. so aus: Der Firmenboss droht der Politik: Wenn ihr mehr Steuern von mir wollt und höheren Mindestlohn, dann verlegen wir die Arbeitsplätze und unser Knowhow eben ins Ausland, wo wir alles zum Spottpreis kriegen. Ich zeige, was ich könnte, und ich brauche dann ja vielleicht nicht einmal auszuführen, was ich angedroht habe.
Wie Isebels Drohgebärde bei Elia gewirkt hat, zeigt sich alsbald (Verse 3-4):

„Da fürchtete er sich, machte sich auf und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen Diener dort. Er aber ging hin in die Wüste eine Tagesreise weit, und kam und setzte sich unter einen Ginster und wünschte sich zu sterben …“

Die unterschwellige Angst wird zur panischen Flucht, und niemand kann Elia zunächst aufhalten. Wir kennen solche Fluchtbewegungen aus eigenen Lebenskrisen: Wir halten eine Konfrontation mit einem starken ‚Feind‘ nicht aus – und sei es nur das, dass wir einem besonders anstrengenden Menschen lieber aus dem Weg gehen, als uns dem Konflikt zu stellen und eine Klärung zu versuchen.
Bei Elia vermischt sich nun diese Angst mit einer Depression. Plötzlich scheint ihm sein unermüdliches Engagement für JHWH und Israel - plötzlich scheint ihm überhaupt alles sinnlos, wenn die Baalspriester dank der Königin zuletzt doch am längeren Hebel sitzen. Und da beginnt nun ein verhängnisvoller Prozess: Unaufhaltsam zieht Elia sich aus den Beziehungen zurück, die bisher seinem Leben Schwung verliehen hatten; zuletzt lässt er noch seinen vertrautesten Weggenossen, seinen persönlichen Assistenten, zurück, will ganz allein sein – und vielleicht erinnern Sie sich selbst an so eine Situation: In der Selbstisolierung ist oft gerade das die Hölle, dass man die Gegenwart auch der Menschen, nach deren Nähe man sich eigentlich sehnt, nicht mehr aushalten kann. Das untröstliche Kind schließt sich in seinem Zimmer ein. Beim Erwachsenen hat das Sich-Isolieren etwas Selbstmörderisches; denn: Leben ist Beziehung: anlächeln und angelächelt werden, erzählen und sich erzählen lassen, berühren und berührt werden, vertraute Stimme eines Menschen, den man riechen mag, miteinander sich freuen und miteinander klagen. Zerbrechen solche Beziehungen und Berührungen, so zerbricht das Leben.

Hat es uns bestürzt, wie unaufhaltsam und wie von einem Dämon getrieben Elia diesen Weg ging? Da ist auch vom christlichen Glauben her nichts zu verklären oder auch nur zu erklären. Da bleibt Gott ein verborgener Gott, und nur noch vom Jüngsten Tag erhoffen wir die Enträtselung der dunklen Rätsel.
Manchmal aber führt ein Weg in jene Todeskrise, in der neues Leben geboren wird. Bei Elia beginnt dieser Umschlag, wenn wir genau hinhören, mit einer heilsamen Enttäuschung – mit der Enttäuschung eines Idealisten (Verse 4-5):

„Und Elia sprach: Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele (besser: mein Leben zurück); Genug davon jetzt; Jahwe, nimm mein Leben zurück; ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich hin und schlief (ein) unter dem Ginster.“

Besser sein wollen als der Vater und die Mutter und die Lehrer: Als wir einst vom Kind zum Jugendlichen wurden, und als der geschärfte Verstand nun mit einem Male alle Mängel unserer Gesellschaft, alle Sünden der Generation vor uns und – am schmerzlichsten – alle Schwächen der geliebten Eltern sah, da schworen wir uns: Ich so nicht. Ich ganz anders. Aber dann wurde das ideale Leben, wie wir es uns vorstellten, hineingezogen in die vielen Gesetzmäßigkeiten und Zwänge der real existierenden Welt. Die haben das Ideal zermürbt, und Trieb und Trott waren stärker als guter Wille und gute Vorsätze. „Ich bin nicht besser als meine Väter!“

Bei Elia mündet eine solche Enttäuschung über sich selbst direkt in einen Schlaf, und der war länger, als es die Erzählung darstellen kann. Und offenbar ist dieser Schlaf, der wie ein Todesschlaf begonnen hat, zum Heilschlaf geworden. Im Heilschlaf wachsen dem Erschöpften oft ungeahnte neue Kräfte und neuer Lebensmut zu. Das zählt zu den guten und immer wieder überraschenden Lebenserfahrungen, dass ein ausreichend langer und tiefer Schlaf vieles verändern kann in dem, wie wir die Welt sehen und unsere Aufgabe angehen. Elia wird nachher seinen Weg weitergehen und seinen Dienst weiter tun – geheilt aber von den Illusionen und vom Größenwahn, versöhnt mit den überkritisierten Vätern und mit einer realistischen Selbsteinschätzung.
Doch es war nicht nur heilsame Selbsterkenntnis und ein Heilschlaf, der Elia wieder auf die Beine gestellt hat. Es war – hören wir die Geschichte zu Ende (Verse 5-8):

„Und siehe: da, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss!
Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser auf Glühsteinen gebackener Brotfladen und eine Flasche Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen.
Und der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.
Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.“

Was hat Elia im Entscheidenden gerettet? Nicht ein Gewaltakt des eigenen Willens! Sondern: dass er mehrmals „angestoßen“ und „berührt“ wurde. Die wiederholte Berührung mit dem Leben. Die Rettung kam von außen. Die Bibel erzählt: Das können buchstäblich nur Engel – einen Menschen aus Todesstarre lösen: Jemand, der oder die mich berührt und sagt: „Du! Auf, komm!“ Die Stärkung des Todmüden beginnt, als er die elementaren Lebensmittel annimmt. Dafür steht in der Bibel „Brot und Wasser“ auch symbolisch: für das, was ein Mensch in seiner Wüste am allernotwendigsten braucht, um erst einmal überhaupt zu überleben.
Das kann in der schweren Depression zum Beispiel eine Freundin sein, die in der Zeit des depressiven Schubs die lebenserhaltenden Tätigkeiten vorübergehend übernimmt: Einkäufe, Behördengänge, Essen richten, das Wohnzimmer wohnlich halten, beten – auch beten. Denn auf dem Tiefpunkt ist ein Schwermütiger in seiner Nacht zu allen diesen Dingen kaum noch fähig. Dann werden es vor allem die schon angesprochenen Berührungen mit dem Leben sein; zu denen muss man einen Elia unter seinem Ginsterbusch regelrecht überlisten. Dass er sich wieder schmeicheln lässt von wärmenden Sonnenstrahlen und kühlendem Wasser, dass er den Duft der Blumenwiesen und des Frühlingswaldes wieder tief in die Lunge zieht, dass er der Hand, die ihm über die Haut streichelt, die Zuneigung abspürt. Und dass er in vielem, was ihm so widerfährt, das ihm freundlich zugedachte tägliche Brot Gottes wieder schmeckt. Und dass er schließlich wieder einen Weg vor sich sieht, den er gehen kann, und ein erstes erreichbares Ziel.

Das haben die Weg-Geschichten der Bibel gemeinsam: Sie führen, mit dem Symbol der heutigen Erzählung gesprochen, zum Berg Gottes. Alle Wege führen nach Rom, heißt es in einem geflügelten Wort. Biblisch müsste es heißen: Alle Wege, die folgerichtigen und die durch Irrungen und Wirrungen, die behüteten und die durch Feuer und Wasser gegangenen – sie alle kommen auf den Berg, auf die Höhe Gottes. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal!
Amen.

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