Ostermontag (10. April 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer PD Dr. Peter Haigis, Springe [peter.haigis@kloster-wuelfinghausen.de]

Lukas 24,13-35

IntentionDie Predigt verfolgt die Intention, den Hörern die Osterbotschaft in Alltagsbezügen zu erschließen, also vom dogmatisch Richtigen zum lebenspraktisch Wahren.

PredigttextUnd siehe, zwei von ihnen gingen an demselben Tage in ein Dorf, das war von Jerusalem etwa sechzig Stadien entfernt; dessen Name ist Emmaus. Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. Und es geschah, als sie so redeten und einander fragten, da nahte sich Jesus selbst und ging mit ihnen. Aber ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten. Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Dinge, die ihr miteinander verhandelt unterwegs? Da blieben sie traurig stehen. Und der eine, mit Namen Kleopas, antwortete und sprach zu ihm: Bist du der Einzige unter den Fremden in Jerusalem, der nicht weiß, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Und er sprach zu ihnen: Was denn? Sie aber sprachen zu ihm: Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und allem Volk; wie ihn unsre Hohenpriester und Oberen zur Todesstrafe überantwortet und gekreuzigt haben. Wir aber hofften, er sei es, der Israel erlösen werde. Und über das alles ist heute der dritte Tag, dass dies geschehen ist. Auch haben uns erschreckt einige Frauen aus unserer Mitte, die sind früh bei dem Grab gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben eine Erscheinung von Engeln gesehen, die sagen, er lebe. Und einige von denen, die mit uns waren, gingen hin zum Grab und fanden’s so, wie die Frauen sagten; aber ihn sahen sie nicht. Und er sprach zu ihnen: O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! Musste nicht der Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in allen Schriften von ihm gesagt war. Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete? Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten zurück nach Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren; die sprachen: Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und dem Simon erschienen. Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wurde, da er das Brot brach.

Liebe Gemeinde,
auf der gegenüberliegenden Seite zu dem Lied „Christ ist erstanden“ (EG 99) finden Sie einen Holzschnitt abgedruckt.(1) Der Künstler Karl Schmidt-Rottluff hat ihn 1918 angefertigt. Ich möchte Sie bitten, eine Weile bei dieser Abbildung zu verweilen. Betrachten Sie sie zunächst in der Stille. Danach will ich Sie durch das Bild und dann vom Bild zu unserem Text führen.

Ein holzschnittartiger ZugangVielleicht haben Sie das Thema der bildlichen Darstellung schon entdeckt. Vielleicht kannten Sie sie sogar schon. Zunächst aber einige ganz einfache Beobachtungen:
Drei Menschen – Männer – sind unterwegs. Die Landschaft, die sie durchwandern, wirkt öde und finster. Die Pflanzen am Wegesrand – scharfkantig und spitz – tragen eher Dornen als Blüten und Blätter. Zwei schwarze Bäume im Hintergrund scheinen nur noch tote Stümpfe zu sein. Rein äußerlich also kein beschaulicher und anmutiger Spaziergang.
Die menschlichen Gestalten im Vordergrund sind sehr unterschiedlich dargestellt. Die beiden äußeren gehen in gebückter Haltung mit gesenktem Kopf. Insbesondere der von uns aus gesehen auf der rechten Seite Gehende macht den Eindruck, als habe er eine schwere unsichtbare Last zu tragen. Kraftlos auf einen Stock gestützt, zieht er schlurfend die Füße über den Boden. Beide außen gehenden Männer halten die Augen geschlossen.
Ganz anders die mittlere Figur: aufrecht, Gesicht und Blick offen nach vorne gewandt, die linke Hand zu einer Geste erhoben, schreitet sie mit den beiden anderen müde und matt wirkenden Männern. Ihr Gesicht leuchtet in hellem Glanz. Vom Haupt gehen Lichtstrahlen aus. Unschwer zu erkennen trägt diese Gestalt Züge der Christusdarstellung aus der Bildenden Kunst. Die Geste lässt sich damit auch als Segensgeste oder Friedensgruß deuten.
Zwei schwarze Striche liegen hinter den beiden äußeren Männern auf dem hellen Weg. Spuren könnten es sein. Christus in der Mitte hinterlässt keine solche Spur. Offenbar ist er noch kein Stück des Weges mitgegangen, sondern taucht erst an dieser Stelle – wie aus dem Nichts – zwischen ihnen auf.
Eigentümlich schließlich sind die Lichtverhältnisse. Das Licht kommt von hinten. Das den Lichtstrahlen abgewandte Angesicht Christi liegt aber nicht im Dunkeln, sondern strahlt von selbst Helligkeit aus. Die Lichtquelle im Hintergrund ist eine kreisrunde schwarze Scheibe. Wie bei einer Sonnenfinsternis leuchtet also nur eine Korona, ein stehengebliebener Rand, doch immer noch hell genug, um den Hintergrund und den Weg in ein kräftiges Licht zu tauchen.

Viel wissen und wenig verstehenDie biblische Geschichte, die dieses Bild aufnimmt, ist der Predigttext für den heutigen Gottesdienst. „Der Gang nach Emmaus“ hat Schmidt-Rottluff seinen Holzschnitt betitelt. Aber damit ist das Bild nicht erklärt. Und auch der biblische Text hat sich damit noch nicht erschlossen. Im Gegenteil: Vielleicht ist uns die biblische Erzählung der „Emmausjünger“ sogar ganz gut bekannt – und dennoch verstehen wir sie nicht. Sie berührt uns nicht im Inneren. Am Ende geht es uns vielleicht wie den „Emmausjüngern“ selbst: Sie wissen viel, aber es hilft ihnen wenig. Deshalb sind sie mit uns verwandt.
Ich habe mich gefragt: Welche Situation aus der doch recht langen und mit reichlichen Motiven ausgestalteten Erzählung des Lukas nimmt Schmidt-Rottluff hier auf? Mein Eindruck: Es sind die Verse 15 bis 17. Inmitten der unbequemen und unglücklichen Wanderschaft der beiden Männer taucht Jesus mit einem Gruß zwischen ihnen auf, doch die beiden Männer sehen nur ihren freudlosen Weg, ihre Fragen und Zweifel. Den Fremden, der ihnen begegnet, erkennen sie nicht. Ihre Augen sind „gehalten“. Jesus aber entschließt sich, ein Stück des Weges mit ihnen zu gehen.
Die nachfolgenden Verse entwickeln für die Leser die verzweifelte Situation, in der die beiden Wanderer auf ihrem Heimweg von Jerusalem stecken. Sie wissen viel, aber es hilft ihnen nichts.
Sie kennen die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu. Was sie dem Fremden erzählen, ist ein knapper Abriss der Passionsgeschichte, wie auch wir sie aus den Evangelien kennen: Jesus wurde verraten, gefangen genommen, gefoltert, verurteilt und musste schließlich auf qualvolle und jämmerliche Weise am Kreuz sterben. Dabei sollte er doch der von Gott gesandte Retter sein. Aber aus dieser Rettung ist wohl nichts geworden. Wieder einmal hat die tödliche Gewalt die Oberhand behalten. Wieder einmal ist Liebe vom Hass verschlungen worden. Am Ende bleiben nur Enttäuschung und tiefe Traurigkeit. Ein sinnloses Opfer menschlichen Lebens mehr – wie es dergleichen unzählige gibt bis auf den heutigen Tag.
Freilich wissen die beiden, die da unterwegs sind, noch mehr, doch auch das hilft nichts: Sie haben gehört, dass das Grab Jesu leer aufgefunden worden sein soll. Auch von Engelerscheinungen unter den Frauen haben sie gehört. Aber was besagt das schon. Das leere Grab allein ist kein Beweis dafür, dass Jesus noch lebt. Möglicherweise ist sein Leichnam gestohlen worden. Und das Zeugnis der Frauen? Nun ja, in einer Männerwelt wie der damaligen galt es nichts.
Auch wir kennen die sogenannte „Osterbotschaft“, aber recht besehen bewirkt sie wohl eher Verunsicherung und Ablehnung als Glauben. Halluzination? Einbildung? Selbsttäuschung? – So sind wir auf unserem Weg keinen Schritt weiter als die beiden „Emmausjünger“.

„Ist euch nicht Kristus erschienen?“Dies drückt für mich auch die Stimmung auf dem Holzschnitt von Schmidt-Rottluff aus. 1918 ist er entstanden. Hinter den Jüngern, die damals unterwegs waren, lag die verbrannte Erde des Ersten Weltkriegs, die zerfetzte Landschaft von Verdun. Aber er zeigt eben auch den Christus in der Mitte.
Das Bild, das wir vor uns sehen, gehört in einen größeren Zusammenhang. Es ist Teil einer Mappe mit neun Holzschnitten, die Stationen aus der Geschichte Jesu erzählen. Die Bilder sind keine Illustrationen zur Bibel. Schmidt-Rottluff hat seine Holzschnitte mit biblischen Motiven stets als seine Form der Verkündigung verstanden. Das zweite Blatt aus dieser Serie zeigt ein geschundenes, aber immer noch Licht und Kraft ausstrahlendes Christusgesicht. Auf seiner Stirn ist ihm die Jahreszahl „1918“ eingeschrieben. Und darunter steht eindringlich: „ist euch nicht Kristus erschienen“. – So lautet die Predigt des Künstlers an seine Zeitgenossen, die mit verschlossenen Augen ihren Weg gehen.
„Ist euch nicht Kristus erschienen?“ – Das könnte auch als Bildunterschrift unter dem „Gang nach Emmaus“ stehen. „Wacht doch auf!“, „Öffnet eure Augen!“, „Schaut doch hin: Christus ist mitten unter euch.“ Aber die Augen der wandernden Jünger sind „gehalten“ wie unsere Augen. Wir sehen und erkennen doch nicht. Wie können sie geöffnet werden? Wie können unsere Augen aufgetan werden für die Gegenwart Jesu mitten unter uns?

Einander zum „Christus“ werdenDie Geschichte der „Emmausjünger“ ist eine hoffnungsvolle Geschichte. Am Ende des gemeinsamen Weges steht nicht nur das Zuhause-Ankommen, sondern auch die erkannte Gemeinschaft mit Jesus. Deshalb sind es vor allem zwei Dinge in dieser Geschichte, die mir Mut machen, daran zu glauben, dass auch unsere „gehaltenen Augen“ sehend werden.
Das eine ist, dass die beiden mit dem Fremden das Mahl feiern und ihn in dem Augenblick als Jesus erkennen, da er das Brot austeilt. Das erinnert stark an das Abendmahl, und mit entsprechenden Worten ist es bei Lukas auch formuliert. Aber im Grunde steckt darin ein gewöhnlicher, alltäglicher Gestus. Die beiden Jünger erkennen Christus, weil es für Jesus typisch war, mit Menschen das Mahl zu feiern, die sonst einsam, abgelehnt und ausgegrenzt waren. Es war ein Zeichen seiner Liebe zu ihnen. So wie es ein Zeichen der Liebe war, wenn er seinen Jüngern die Füße gewaschen hat oder Kranken die Hände aufgelegt und Menschen vor denen in Schutz genommen hat, die ihnen nachstellten.
Einfache Zeichen der Liebe. Einfache Zeichen der Liebe können auch 2000 Jahre nach Jesu Tod am Kreuz von uns getan werden. Und darin scheint das Licht des Ostermorgens auf. Darin wird Christus unter uns lebendig, weil wir einander zum „Christus“ werden.

Was das Herz höher schlagen lässtDas andere ist das, was sich in der Geschichte zuerst ereignet hat. Doch erst im Rückblick, vom Ende her enthüllt es sich in seiner Wahrheit. Die beiden Jünger erlebten auf ihrem schwermütigen Weg nach Emmaus die Gemeinschaft mit einem Fremden, der es vermochte, sie zu trösten. Was sie nicht verstanden und was sie verunsicherte, das konnte er für sie neu ordnen. Er konnte sie beruhigen und innerlich wieder ein wenig festigen. Auch dies ist etwas, was wir einander geben können, wenn wir vom Geiste Christi erfüllt sind. Keine Tat, sondern ein wirksames Wort, ein aufrichtender Zuspruch. Das ist in seinem Wert nicht zu unterschätzen.
Aber vom Ende her betrachtet liegt darin noch mehr: Nachdem die beiden in dem Fremden den lebendigen und auferstandenen Christus erkannten, war auch ihre Weggemeinschaft in ein neues Licht getaucht. Da gingen ihnen nicht nur am Tisch die Augen auf. Sie verstanden auch das, was ihnen der Fremde schon unterwegs bedeutete. Und sie fassen dieses Staunen in den Satz: „Brannte nicht unser Herz ...?“ Diese tiefe Empfindung wird mit einem Mal zum Maßstab neuen Lebens. Weil das Herz brennt, weil es höher schlägt, weil es übergeht – darum ist der Trost, den der Fremde spenden konnte, der Trost des lebendigen Christus.
Wir können vieles wissen und kennen. Wir können manches hören und selbst bezeugen. Wir mögen einiges nachbuchstabieren, wie wir es gelesen haben, und nachbeten, wie wir es gelernt haben. Dass darin Christus lebendig wird, das zeigt sich, wenn unser „Herz brennt“, wenn es uns im Inneren anrührt, wenn es Besitz von uns ergreift. Doch freilich, dies können und müssen wir nicht tun; es widerfährt uns von Gott durch seinen Geist. Amen.

(1) Hinweis zum Bild von Karl Schmidt-Rottluff: https://www.flickr.com/photos/hen-magonza/48205066842

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