Ostersonntag (27. März 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]

1. Korinther 15, 1-11

Rückenstärkung – Predigt zu 1. Korinther 15, 1-11

Liebe Gemeinde,

Ostern stärkt uns den Rücken.
Ostern lässt uns aufrecht gehen.
Ostern lässt uns das Haupt erheben.
Ostern lässt uns aufschauen.

Den Rücken stärken,
aufschauen,
das Gesicht der Sonne zuwenden,
die Schatten hinter sich lassen – so viele Menschen sehnen sich danach, dass ihnen das wieder möglich wird.

Der Apostel Paulus hat aufbewahrt, was ihm wieder den Rücken gestärkt hat. Er hat es erhalten von Menschen, die vor ihm davon lebten. Und er gibt es weiter an die Glaubensgeschwister in Korinth, an alle später Geborenen, an uns:
Christus ist gestorben für unsere Sünden nach der Schrift.
Er ist begraben worden.
Er ist auferstanden am dritten Tag nach der Schrift.
Er ist gesehen worden von Kephas
Und danach von den Zwölfen.

Fünf einfache Sätze. Sie sind eingegangen in unser Glaubensbekenntnis. Sie bilden den Kern von dem, was wir glauben. Sie stärken uns den Rücken.

Der GestürzteDer Bildhauer Wilhelm Lehmbruck hat vor 100 Jahren sein Werk „Der Gestürzte“ geschaffen. (1) Mit seinen Händen hat er aus Gips die Gestalt eines Mannes geschaffen, der sich mit allen vieren mühsam auf dem Boden stützt. Sogar sein Kopf berührt den Boden. Seine Augen schauen nach rückwärts. Er kann sich nicht erheben. Mühsam hält er sich auf den Knien und den Unterarmen. Er versucht, vorwärts zu kommen. Es geht nicht. Verzweifelt schaut er zurück in die Vergangenheit.
Er hat kein Rückgrat mehr. Dort, wo sich eigentlich die einzelnen Wirbel auf dem Rücken abzeichnen müssten, ist nur eine Kuhle. Nichts. Er kann sich nicht aufrichten. Er hat keinen Halt.
So hat Wilhelm Lehmbruck mitten im 1. Weltkrieg den Menschen gesehen. Die allertiefste Verzweiflung hat ihn erfasst. Die völlige Aussichtslosigkeit, jemals wieder die aufgehende Sonne vor sich zu sehen. Es ist ihm nicht mehr möglich, das Haupt zu erheben. Er hat keinen Halt mehr aus sich selbst.
Die Menschen in Europa hatten im Krieg den Tod und das Töten zum Meister des Lebens gemacht. Alles, was sie zuvor stolz gemacht hatte – ihre Wissenschaft, ihre Technik, ihr Denken, ihre Weisheit – hatten sie in den Dienst des Todes gestellt. Es ist unvorstellbar, was Menschen schaffen können an Bösem.
Es ist auch erstaunlich, was Menschen schaffen können an Gutem. Heimatlos gewordenen Menschen, die von Krieg und Gewalt und Hass innerlich zutiefst verwundet sind, die Hand reichen und sie willkommen heißen. Das gelingt. Einen Todkranken bis zuletzt liebevoll begleiten. Streit schlichten. Auch das schaffen Menschen immer wieder. Gott sei Dank.
Ostern aber ist das, was wir nicht schaffen können.

Wir waren nicht dabei„Christ ist erstanden von der Marter all.“ Wir besingen ein Ereignis, das vor unserer Zeit geschehen ist. Wir waren nicht dabei. Kein Mensch war dabei, als Christus neu ins Leben trat. Aus dem Tod heraus. So wie kein Mensch dabei war, als Gott das Licht schuf und alles Leben.
Vor unserer Zeit, außerhalb von allem, was Menschen denken und erleben und erfahren können, ist Christus in ein neues Leben getreten. Er ist dem Grab entronnen. Er hat das Totenreich hinter sich gelassen.
Wir dagegen wissen aus unserer Erfahrung: Keiner unserer Verstorbenen kommt zurück.
Auch Jesus ist nicht zurückgekehrt. Sein neues Leben spielt in einer anderen Welt. Nicht in unserer Welt, in der wir uns recht und schlecht am Leben zu erhalten versuchen. Zu dieser anderen Welt haben wir von uns aus keinen Zugang.

Der Ausgang aus dem Reich des Todes ist offenAllerdings: Christus lebt nicht hermetisch abgeschlossen in der Welt seines neuen Lebens. Er hat den Stein nicht etwa zurückgerollt vor die Öffnung des Totenreiches. Auch die Engel nicht. Sie haben ihn einfach so stehen lassen. Neben dem Ausgang des Grabes. Nutzlos steht er da.
Er, Christus, lebt nicht für sich allein in seinem neuen Leben. Er hat sich nicht abgeschottet von der Welt, in der wir leben, kämpfen, leiden, verzagen und hoffen.
Er lässt sich sehen. Petrus darf ihn sehen, ganz früh am Morgen, im Zwielicht noch. Die 12 Jünger sehen ihn plötzlich. Auch viele andere erzählen davon: „Wir haben den Herrn gesehen!“ In den Evangelien wird über das hinaus, was Paulus überliefert, berichtet, dass einige Frauen als Erste wahrgenommen haben: „Der Herr ist auferstanden.“ Engel haben es ihnen am offen stehenden Grab gesagt. Und Maria Magdalena hat ihn gesehen, als sie voll Trauer und Entsetzen am leeren Grab stand. Sie hat ihn erkannt, als er sie mit ihrem Namen ansprach.

Christus – von Paulus gesehenUnd sogar Paulus durfte ihn sehen. Obwohl er ihn gar nicht leibhaftig gekannt hatte. Er war danach arg mitgenommen. Geradezu geblendet. Drei Tage lang. Das Licht aus der Höhe, das ihn auf dem Weg nach Damaskus traf, hat ihn niedergeworfen. Gerade so wie den „Gestürzten“, den Wilhelm Lehmbruck geformt hat. Bis dahin wähnte sich Paulus sehr stark. Er hatte einen Willen, eine „Mission“ sozusagen. Er war unterwegs, die Anhänger jenes Jesus von Nazareth überall aufzuspüren und gefangen zu nehmen.
Diese Stärke klappte zusammen wie ein Blatt Papier. Nichts davon war mehr da. Alles, was sein Handeln bis dahin geleitet hatte und seinen Beinen so ungeheure Kraft gegeben hatte, war dahin.
Dann aber, nach drei Tagen, wurde er neu aufgerichtet. Christus hat ihm den Rücken gestärkt. Er hat ihn mit einer neuen Mission ausgestattet. In dieser neu geschenkten Mission hat er den Glaubensgeschwistern weitergegeben, was er selbst empfangen hat und wozu er selbst nichts beigetragen hat: „Christus ist auferstanden am dritten Tage.“

„Ich lebe. Und ihr sollt auch leben“Ostern ist, wie wenn der Stein vor dem Ausgang weggerollt wird und wir auf einmal hinausblicken können. Ins Helle. Wir können da gar nichts hinzutun. Wir blicken aus der Finsternis ins Licht.
„Christ ist erstanden von der Marter all.“ Wir besingen ein Geschehen, das unserem Leben neu Sinn gibt. Wir können scheitern. Es kann sein, dass wir unsere Ziele nur halb erreichen. Oder gar nicht. Es kann sein, dass unser Vertrauen in diesen oder jenen Menschen schmerzlich enttäuscht wird. Es kann sein, dass unser Leben aussieht wie ein Scherbenhaufen. Zu nichts mehr nütze. Es kann sein, dass wir keine Kraft mehr in uns spüren.
Ostern aber ist wie die Hand, die unseren kraftlosen Rücken berührt. Mit sanftem Druck hilft sie uns, uns aufzurichten und langsam und vorsichtig den Kopf zu heben. Und wir sehen: Da ist Raum zu leben. Weiter Raum. Da ist Christus. Er trägt die Spuren seiner Schmach und seines Leidens noch am Leib. Doch wirklich zugewandt ist uns sein Gesicht. Es überstrahlt alles, was uns niederdrücken könnte. Freundlich einladend bedeutet es uns: „Ich lebe. Und ihr sollt auch leben“. Amen.

Anmerkung:
1 Wilhelm Lehmbruck (1881 – 1919). Die Plastik „Der Gestürzte“ hat Lehmbruck 1915/16 geschaffen. Es gibt davon mehrere Abgüsse in verschiedenen Materialien. Ein Exemplar ist in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen, eines im Lehmbruck-Museum in Duisburg.

Link zur Plastik: http://onlinekatalog.staatsgalerie.de/detail.jsp?id=68E193D24A3E8FC7AE7E499BF35F1E56&img=1

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