Palmarum / Palmsonntag (25. März 2018)

Autorin / Autor:
Kirchenrat Dr. Joachim Hahn, Plochingen [JoachimSHahn@web.de]

Jesaja 50, 4-9

Als Predigttext zum diesjährigen Palmsonntag hören wir eines der sogenannten Gottesknechtslieder aus dem Buch des zweiten Jesaja. In diesen Liedern, es sind mehrere davon überliefert, ist die Rede von dem schweren Leidensweg eines Knechtes Gottes. Wir hören das in Jesaja 50,4-9 überlieferte dritte Gottesknechtslied:
„Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.
Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.
Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.
Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.
Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir!
Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.“

Liebe Gemeinde!
Wenn wir dieses Gottesknechtslied am heutigen Palmsonntag, zu Beginn der Karwoche hören, dann wird bei den meisten von uns der Blick vermutlich gleich auf den Leidensweg Jesu gerichtet sein. Und doch: Auch wenn die ersten Christen in diesem Lied eine Prophezeiung über Jesus gesehen haben, so ist dies bis heute nicht die einzige Möglichkeit der Auslegung dieser Verse geblieben.
Der Prophet, der die Gottesknechtslieder geschrieben hat, hat in einer Zeit schwerer Erniedrigung des Volkes Israel gewirkt. Damals – in der Zeit des Babylonischen Exils – wurde das Gottesvolk gerade auch um seines Glaubens willen verschmäht und verspottet. „Euer Gott ist machtlos!“ mussten die Israeliten hören. „Unser Gott, der babylonische Gott Marduk, hat sich als der viel stärkere Gott erwiesen!“
Das Volk musste harte Zwangsarbeit leisten, hat furchtbare Zeiten mitgemacht. Und so kommt das Schicksal einzelner, ja des ganzen Volkes Israel zur Sprache, wenn vom damaligen Leiden die Rede ist: "Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften."

Wer ist mit dem „Gottesknecht“ gemeint?Dass mit dem Knecht Gottes nicht nur ein einzelner oder einzelne, sondern auch ganz Israel gemeint sein kann, wird besonders im zweiten Gottesknechtslied in Jesaja 49 ausgedrückt, wo steht: "Und Gott sprach zu mir: Du bist mein Knecht, Israel, durch den ich mich verherrlichen will.“
Mir ist das ganz wichtig, denn tatsächlich können wir diese Deutung nicht einfach unterschlagen. In vielen der späteren Jahrhunderte hat eben diese andere Deutung dem jüdischen Volk eine Möglichkeit gegeben, eigenes Leiden begreifen zu können und dabei nicht an Gott völlig verzweifeln zu müssen. Ein solches Gottesknechtslied hat diesem Volk die Kraft gegeben, weiter an ihn zu glauben und auf ihn hoffen zu können.
Auch im Christentum ist die Deutung des Leidens des Gottesknechtes nicht nur auf Jesus beschränkt gewesen. Auch diejenigen, die in der Nachfolge Jesu viel erleiden, können angesprochen werden: "Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich..." sagte Jesus zu seinen Jüngern.
Schon von daher ist es gut, offen zu bleiben im Blick auf die Deutung des Gottesknechtes. Es kann sich darin das Schicksal des jüdischen Volkes, das Schicksal Jesu wie auch seiner Nachfolger widerspiegeln.
Jochen Klepper, der in der Zeit des Nationalsozialismus Schweres erlitten und schließlich mit seiner Frau jüdischer Abstammung und seiner Tochter 1942 den Weg in den Tod gewählt hat, hat ähnlich gedacht. In seinem Lied: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr“, nimmt Jochen Klepper Formulierungen unseres heutigen Gottesknechtsliedes auf.
In seinem Tagebuch schrieb Klepper an dem Tag, als er das Lied am 12. April 1938 verfasste: „In unserem alten Garten in der Seestraße blühen die alten Kirschbäume so schön. Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, die Worte, die mir den ganzen Tag nicht aus dem Ohr gegangen waren.“
Das Lied von Jochen Klepper kann jeder Christ singen und darf damit die biblischen Gedanken auf sich selbst beziehen. Im Blick darauf möchte ich die einzelnen Gedanken des Gottesknechtsliedes nochmals mit uns nachdenken.

Was ist der Auftrag des Gottesknechtes?In den ersten Versen dieses Liedes beschreibt der Gottesknecht sein Wirken. „Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück...“
Auf das Hören scheint es hier besonders anzukommen. Der Gottesknecht hört und gibt das Gehörte redend weiter. Er versteht sich darauf, erschöpften Menschen beizustehen. Freilich ist er als einer, der gehört hat, immer neu auf das Hören angewiesen. Einer, der glaubt, der auf Gott hört, ist nie fertig damit, hat niemals ausgelernt.
Auch wir müssen für die Stimme Gottes offen bleiben. Sonst gehen wir bald eigene Wege, denken eigene Gedanken. Es besteht die Gefahr, dass wir uns gegen Gott wieder verschließen, seine Stimme nicht mehr hören. Ein nie abreißender Kontakt zu Gott ist wichtig, Gemeinschaft mit ihm im Hören auf sein Wort.
Freilich: Diese Gemeinschaft würde nicht funktionieren, wenn Gott nicht immer aufs Neue "das Ohr weckte". "ER weckt mich alle Morgen; ER weckt mir das Ohr." Dass Gott sich vernehmlich macht, ist das Wunder eines neuen Tages. Gott setzt immer wieder neu Anfänge. Wir wissen ja selbst, wie schwer es oft schon unter uns Menschen ist, zuhören zu können. Im Hören auf Gott sind wir ja noch viel ungeschickter. Aber Gott weckt das Ohr.
Jesus selbst hat wie dieser Knecht geredet und immer wieder betont, wie er auf Gott hört. Einmal heißt es im Johannesevangelium: "Der mich gesandt hat, ist wahrhaftig, und was ich von ihm gehört habe, das rede ich zur Welt."
Nach dem Hören heißt es vom Gottesknecht: "Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück." Zum Hören gehört der Gehorsam. Man kann nicht für Gott offen sein und dann ganz anders tun, als einem gesagt und befohlen ist.
Auch hier können wir an Jesus denken: "Gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz" heißt es von ihm im Philipperbrief. Jesus hört und gehorcht. Was er getan und geredet hat, tat er aus seiner Bindung an Gott heraus. Gehorsam heißt für ihn: "Dein Wille geschehe."
Sicher: Mit dem Begriff Gehorsam tun wir uns oft schwer. Und wir tun zurecht damit schwer, wenn mit diesem Begriff die Herrschaft von Menschen über andere Menschen verbunden ist. Hier im Bibeltext geht es um den Gehorsam gegenüber Gott. Dieser Gehorsam nimmt uns jedoch nicht unsere Freiheit. Ganz im Gegenteil: Aus der Bindung an Jesus und seinen himmlischen Vater werden wir als Christen frei. „Wenn euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr wirklich frei", heißt es im Johannes-Evangelium.
Der Knecht in unserem Predigttext hat einen Auftrag: "mit den Müden zur rechten Zeit zu reden". Mit anderen Worten: Er ist zum Seelsorger berufen. Den Schwachgewordenen predigt er von dem Gott, der „dem Müden Kraft gibt und Stärke den Unvermögenden“, wie es wenige Kapitel zuvor heißt.
Freilich begegnet uns der Gottesknecht nicht nur als Seelsorger, sondern auch als der misshandelte Knecht. "Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ Gerade hier – liebe Gemeinde - denken wir sicher besonders an Jesus, gerade zu Beginn der Karwoche.
Das Leiden des Einen – so einmalig und jeden Vergleich sprengend es ist, soll unseren Blick aber gerade an dieser Stelle nicht von den ungezählten anderen ablenken, die von Menschen misshandelt worden sind und misshandelt werden, bis hin zum grauenvollen Tod.
"Du bist mein Knecht, Israel..." Diese Deutung des Gottesknechtes lässt uns auch hier nochmals an das jüdische Volk denken. Wieviel Schläge, wieviel grausames Leiden und Sterben, wieviel Schmach haben Juden in den Ghettos und Lagern vor gut 70 Jahren erleben müssen. Vor Gott ist das Weinen, Ächzen und Schreien der Misshandelten nicht vergessen, auch wenn viele heutzutage es nicht mehr hören oder daran erinnert werden wollen.
Auffallend ist, wie sich der Gottesknecht verhalten hat. Auch wenn er geschlagen, gedemütigt und angespuckt wird, nicht wird berichtet, dass er sich in irgendwelcher Weise gewehrt hätte. Nein: Er hält seinen Rücken hin, dass sie ihn geißeln können. Er lässt sich ohrfeigen, so entehrend und demütigend das ist. Sie spucken ihn an, und er lässt es geschehen. Er durchbricht das schreckliche Gesetz der Vergeltung, nach dem eine Gewalttat immer wieder eine andere, das Unrecht auf der einen Seite immer sofort neues Unrecht auf der anderen Seite hervorruft. Der Teufelskreis der Gewalt wird von ihm aufgebrochen. Keine Aggression, nicht einmal Defensive. Nur sein Angesicht macht er hart wie einen Kieselstein; man soll ihm die Angst und die Schmerzen nicht ansehen.

Wie kann der Gottesknecht so viel Leid ertragen?Man muss fragen, wie es der Gottesknecht überhaupt fertigbringt, sich so zu verhalten? Sicher, jeder von uns kennt wohl Szenen aus seinem Leben, in denen wir uns widerfahrenes Unrecht hingenommen haben und in der Demütigung still geblieben sind. Aber war es bei uns die Haltung, die von diesem Knecht Gottes berichtet wird? Bei Jesus ging es ja so weit, dass er sogar noch für seine Peiniger Partei ergriffen hat und für sie gebetet hat: "Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun".
Wie – so frage ich nochmals – war beim Gottesknecht eine solche Haltung überhaupt möglich? Die Antwort gibt der Text darin, dass der Knecht weiß, dass Gott zu ihm steht. Alles, was in diesem Lied noch gesagt wird, steht unter diesem Thema: "Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir. Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen?“
Ganz überraschend ist das, wenn wir dies nachzudenken versuchen. Gott kommt an zentraler Stelle vor für den, der Unheil erleidet. Daraus gibt es für ihn eine letzte Unverwundbarkeit, die auch dann bestehen bleibt, wenn er aus vielen Wunden blutet. Daraus gibt es für ihn ein Leben, das nicht auszulöschen ist, auch wenn das Herz stillsteht und der Atem aufhört. Gott ist bei ihm. Er weiß, dass er nicht zuschanden wird.
Alles Unheil, alle Not in diesem Leben ist nur von ganz vorläufiger Bedeutung. Gott spricht das letzte Wort! So geht der Knecht, wenn auch bedrängt und misshandelt von Menschen, seinen Leidensweg unter dem Beistand des unsichtbar anwesenden Gottes.
Auch im furchtbaren Leid, auch im finstern Tal sieht der Knecht schon das Licht Gottes. Recht behält am Ende eben nicht der Gewalttätige, der Bedenkenlose, der Menschenverächter. Recht behält der leidende Knecht, zu dem Gott sich bekennt.
Man könnte die letzten Gedanken des Liedes schon im österlichen Licht verstehen. Zwar ist mit keinem Wort von dem neuen Leben die Rede, das zu Ostern ans Licht kommt. Aber das neue Leben entsteht durch Gottes Ja, und durch seinen Sieg über Leid und Tod. Amen.

Hinweis: Liedvorschlag zu Beginn des Gottesdienstes „Er weckt mich alle Morgen“ (EG 452)

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