Palmarum / Palmsonntag (14. April 2019)

Autorin / Autor:
Dekan Frithjof Schwesig, Blaubeuren [frithjof.schwesig@elkw.de]

Jesaja 50, 4-9

IntentionGott ist den Müden und Verzagten nahe – damals wie heute.

Liebe Gemeinde,
Worte aus der Bibel sind alt. Prophetenworte erst recht. Und doch erleben Menschen immer wieder, dass die alten Worte wichtig sind für ihr Leben. Denn sie deuten, woran sie glauben und wie sie leben können. Deshalb hören wir auch heute Verse aus dem Buch des Propheten Jesaja, zweieinhalb Jahrtausende alt. Hören Sie Kapitel 50, die Verse 4 bis 8:

„Gott, der Herr, hat meine Zunge in seinen Dienst genommen, er zeigt mir immer neu, was ich sagen soll, um die Müden zu ermutigen. Jeden Morgen lässt er mich aufwachen mit dem Verlangen, ihn zu hören. Begierig höre ich auf das, was er mir zu sagen hat. Er hat mir das Ohr geöffnet und mich bereitgemacht, auf ihn zu hören. Ich habe mich nicht gesträubt und bin vor keinem Auftrag zurückgescheut. Ich habe meinen Rücken hingehalten, wenn sie mich schlugen, und mein Kinn, wenn sie mir die Barthaare ausrissen. Ich habe mich von ihnen beschimpfen lassen und mein Gesicht nicht bedeckt, wenn sie mich anspuckten. Sie meinen, ich hätte damit mein Unrecht eingestanden; aber der Herr, der mächtige Gott, steht auf meiner Seite. Deshalb mache ich mein Gesicht hart wie einen Kieselstein und halte ich alles aus. Ich weiß, dass ich nicht unterliegen werde. Ich habe einen Helfer, der meine Unschuld beweisen wird; er ist schon unterwegs. Wer wagt es, mich anzuklagen? Er soll mit mir vor den Richter treten! Wer will etwas gegen mich vorbringen? Er soll kommen! Der Herr, der mächtige Gott, tritt für mich ein. Wer will mich da verurteilen? Alle, die mich beschuldigen, müssen umkommen; sie zerfallen wie ein Kleid, das von Motten zerfressen ist.“

Liebe Gemeinde,
hier spricht einer, der Schlimmes erlebt hat. Er hat Feinde. Die haben ihm aufgelauert, bespuckt und geschlagen. Sie haben ihm sogar die Barthaare ausgerissen – eine schlimme Erniedrigung! Sie wollten ihn zum Schweigen bringen. Warum? Wir wissen es nicht. Vielleicht hängt es mit seinem Auftrag zusammen. Gott hat ihn berufen, „die Müden zu trösten“ – wie er sagt. Die Müden – das waren die Männer und Frauen Israels.

Die hatten damals den Krieg gegen das babylonische Weltreich verloren. Die Folgen waren katastrophal. Jerusalem wurde verwüstet, der Tempel zerstört. Um den Widerstandswillen Israels zu brechen, haben die Babylonier ein Großteil der Bevölkerung ins Exil nach Babylon geführt. Dort, fern der Heimat, haben sie Tränen vergossen, weil sie glaubten, niemals wieder heimkehren zu können. Viele haben ihren Glauben verloren, trauten Gott nicht mehr zu, ihr Schicksal zum Guten wenden zu können.

Zu ihnen schickt Gott diesen Gottesmann – die Bibelwissenschaftler nennen ihn den „Gottesknecht.“ Er soll ihnen ausrichten: „Gott hat euch nicht vergessen! Er wird euch helfen. Wie einst bei Mose wird er euch aus der Gefangenschaft in die Freiheit führen. Ihr werdet bald heimkehren! Habt Geduld!“
Einige aber haben dem Gottesknecht misstraut. „Gott wird euch niemals helfen!“, haben sie gesagt. „Der hat euch längst vergessen. Täuscht euch nicht! Dieser Mann ist ein Lügner!“

Sie tun ihm Gewalt an. Er wehrt sich nicht. Er nimmt die Demütigung hin und hält an seinem Auftrag fest. Die Kraft dazu kommt von Gott, erzählt er. Jeden Morgen, wenn er betet, erlebt er Gottes Trost, der ihn umhüllt wie ein warmer Mantel. Und Gott gibt ihm die rechten Worte, die Müden zu ermutigen. Deshalb kann er über sich sagen: „Gott steht auf meiner Seite. Mit seiner Hilfe halte ich alles aus.“

An diese eindrückliche Gestalt des Gottesknechtes haben sich 600 Jahre später Christen erinnert und festgestellt: Was hier erzählt wird, hat Jesus von Nazareth auch so erlebt.
Auch er hat den Menschen erzählt, was er bei Gott gehört hat: z.B., dass, man dem Feind vergeben und dem Schlagenden die andere Wange hinhalten soll.

Auch er hat zu den Müden und Verzagten geredet, hat ihnen Worte gesagt, die sie ermutigt haben, Worte wie: „Selig sind die Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“

Auch Jesus hat erlebt, dass sich Menschen seiner Botschaft verschlossen haben. Sie haben ihn geschlagen und schließlich zu Tode gebracht. Daran denken Christen in der Karwoche und singen: „Du wirst gegeißelt und mit Dorn gekrönet, ins Angesicht geschlagen und verhöhnet!“

Der heutige Palmsonntag erinnert daran, wie das alles begann. Wie Jesus in Jerusalem einzog – gefeiert vom Volk, begrüßt als Messias, der den Menschen Befreiung und Heil bringt.

Mit den Jubelrufen war es aber bald vorbei. Fünf Tage später war Jesus tot, an einem Kreuz aufgehängt, berichtet die Bibel. So schnell ging das – weil Jesus die Erwartungen der Menschen nicht erfüllt hat. Er war kein König, der mit einem Schlag die Römer aus dem Land vertreibt und die Ungerechtigkeit im Land mit einem Federstrich beseitigt. Auf einen solchen König hatten sie gewartet. Einen solchen hatten sie sich gewünscht.

Aber Jesus kam auf einem Esel geritten anstatt auf einem Kriegsross. Er war ein ganz anderer König. Ein König, der die Gewaltlosigkeit gepredigt und die gegen ihn gerichtete Gewalt widerstandslos erlitten hat. Seine Feinde haben ihn bespuckt, gefoltert und ans Kreuz geschlagen. Er ließ das zu. Er floh nicht. Er ließ sich gefangen nehmen. Mit Gottvertrauen nahm er das Leiden auf sich – bis hin zu seinen letzten Worten am Kreuz: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“

Jesus ist damals in Jerusalem eingezogen. Heute könnte er in unsere Herzen einziehen. Und wenn er einzieht, hat das Auswirkungen auf unser Leben und das Leben unserer Mitmenschen.

Wer Jesus im Herzen hat, wendet sich zum Beispiel den Müden und Verzagten zu – so wie Jesus und der Gottesknecht es getan haben. Die Müden und Verzagten – das sind Menschen, die vom Leben enttäuscht sind, die kaum noch Erwartungen haben, die das Leid, das sie erleben, an Gott zweifeln lässt.

„Ich spüre Gott nicht“, hat der junge Mann gesagt, dessen Frau sich das Leben genommen hatte. Er fühlte sich nur noch gelähmt, ohne Antrieb. Müde. Nichts machte mehr Sinn. Mit dem Tod seiner Partnerin hatte das Leben keinen Glanz mehr. Alles war nur noch grau und hoffnungslos.

Wer Jesus im Herzen hat, geht zu den Müden und Verzagten hin, hört ihnen zu, und sagt ihnen dann das, was sie selbst gerade nicht glauben können: Dass sie in Gottes Augen mehr sind als das, was andere über sie sagen. Dass Gott an ihrer Seite steht – auch im Leiden. Dass Krankheit und Tod nicht das letzte Wort haben, sondern Jesus Christus, zu dem wir gehören im Leben und im Sterben.

Wer Jesus im Herzen hat, der vertraut fest auf Gott – so wie der Gottesknecht und Jesus es getan haben. Sein Gottvertrauen hat ihn durch die letzten, schweren Tage seines Lebens getragen – auch wenn er am Ende mit Gott gehadert hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Zweifel und manchmal auch Verzweiflung gehören zu unserem Glauben. Wer an Gott zweifelt, muss sich dafür nicht schämen. Er soll wissen: Am Ende wartet Jesus am Ziel, auf das wir zulaufen: die zukünftige Stadt Gottes, in der es keine Zweifel, kein Leid, keinen Schmerz und keinen Tod mehr geben wird.

Mit dieser Hoffnung auf das himmlische Jerusalem hat auch der Dichter Jochen Klepper gelebt. Nachher werden wir sein Morgenlied singen: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr!“ Diese Worte sind den Gedanken des Gottesknechtes nachempfunden.

Nicht von dem, was wir an einem Tag alles tun müssen, singt dieses Morgenlied, sondern von dem, was Gott alles für uns tut. „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr." Ja, mehr noch: "Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht." Am Morgen stehen eben nicht nur die Sorgen und Zweifel mit auf. Vielmehr ist es Gott selbst, der für mich da ist und mich in seiner Treue auch durch diesen Tag begleitet und mir die Kraft gibt, die ich brauche.

Wie der Gottesknecht hat auch Jochen Klepper jeden neuen Tag mit dem Hören auf Gottes Wort begonnen. Für ihn war das keine lästige Pflichtübung. Vielmehr hatte er schon oft die Erfahrung gemacht, dass Gottes Wort den neuen Tag in ein freundliches Licht stellt. Durch das Lesen in der Bibel oder in den Herrnhuter Losungen hat er erfahren: Der neue Tag ist Gottes Geschenk für mich. Seine guten Worte geben mir Kraft. Diese Kraft hat Klepper dringend gebraucht. Denn er hat in einer schlimmen Zeit gelebt.

1938 hat Jochen Klepper sein Morgenlied geschrieben. Er hatte eine Jüdin geheiratet. Das war im Nationalsozialismus verboten. Er hatte zunächst gehofft, dass ihm als bekanntem Schriftsteller nichts passieren könne. Als der Druck auf die Familie immer größer wurde, hat sie die Ausreise aus Deutschland beantragt. Im letzten Augenblick wurde die Ausreise von höchster Stelle aus vereitelt. Müde geworden durch enttäuschte Hoffnungen nahmen er, seine Frau und seine Tochter sich das Leben.

Überliefert ist sein letzter Satz: „Über uns steht in den letzten Stunden das Bild des segnenden Christus, der um uns ringt. In dessen Anblick endet unser Leben.“

Gibt es für die Müden und Verzagten etwas Tröstlicheres als zu hören, dass am Ende nicht die Sorgen und Ängste das letzte Wort haben werden, sondern Jesus Christus, der an unserer Seite steht und für uns eintritt?

„Der Herr, der mächtige Gott, steht auf meiner Seite…Der Herr tritt für mich ein“, hat auch Jesaja, der Gottesknecht, gesagt.

Ich finde deshalb: die letzte Strophe im Morgenlied von Jochen Klepper hätte ebenso gut auch aus der Feder des Gottesknechtes stammen können, denn beide haben erfahren: Gott ist mir nah. Er spricht zu mir Worte der Ermutigung und des Friedens. Ich bin nicht allein.

Und so lautet die letzte Strophe:
„Gott will mich früh umhüllen mit seinem Wort und Licht, verheißen und erfüllen, damit mir nichts gebricht; will vollen Lohn mir zahlen, fragt nicht, ob ich versag. Sein Wort will helle strahlen, wie dunkel auch der Tag!“
Amen.

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