Pfingstsonntag (31. Mai 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrer PD Dr. Peter Haigis, Springe [peter.haigis@kloster-wuelfinghausen.de]

Apostelgeschichte 2, 1-21

IntentionDie Geschichte des Christentums weist zahllose Verzweigungen, Trennungen und Abspaltungen unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften auf. Ist das ein Widerspruch zur Wirksamkeit des Geistes Gottes? Ich finde, man muss es nicht unbedingt so sehen, wenngleich uns die Pfingstgeschichte auf eindrückliche Art lehrt, wie der Geist Gottes Menschen unterschiedlicher Herkunft und Tradition zusammenführt.

2,1 Und als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort.
2 Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.
3 Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen,
4 und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab.
5 Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel.
6 Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.
7 Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer?
8 Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache?
9 Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia,
10 Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen,
11 Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden.
12 Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?
13 Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.
14 Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, vernehmt meine Worte!
15 Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde des Tages;
16 sondern das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist (Joel 3,1-5):
17 »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben;
18 und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen.
19 Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut und Feuer und Rauchdampf;
20 die Sonne soll in Finsternis verwandelt werden und der Mond in Blut, ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt.
21 Und es soll geschehen: Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden.«

Liebe Gemeinde,

sie hatten sich den Europatag 2020 ganz anders vorgestellt – die Initiatoren des christlichen Netzwerks „Miteinander für Europa“. 300 christliche Gemeinschaften und innerkirchliche Bewegungen sind in diesem Netzwerk verbunden, darunter zahlreiche freikirchliche Gruppen und Organisationen, die dem charismatischen Spektrum zugehören; doch auch Kommunitäten und liturgische Erneuerungsinitiativen gehören zu den Mitgliedern. Von ihnen geht eine ganz eigene Atmosphäre und Spiritualität ökumenischer Verbundenheit in Europa aus: „Uns verbindet in Europa nicht nur die Politik, die in den Zentren der Macht ausgeübt wird; uns verbindet auch schon immer der Glaube an Jesus Christus“ – das ist die Devise.
Gegründet vor 20 Jahren wollte die Initiative den Europatag in diesem Jahr als ein besonderes Fest feiern. Doch dann machte die Corona-Pandemie auch hier – wie sonst – einen Strich durch die Rechnung: Reale Treffen und Begegnungen waren unmöglich geworden; aber der Geist Gottes lässt sich nicht aufhalten. Der Europatag 2020 von „Miteinander für Europa“ fand als Zeichen christlicher Gemeinschaft dennoch statt: in der Verbundenheit im Gebet, in Online-Meetings und in zahlreichen digitalen Angeboten.
Immer wieder führte die Bewegung „Miteinander für Europa“ Kongresse durch, auch in Stuttgart und München. Vor Jahren las ich in einem Zeitungsartikel über eines dieser Treffen den bemerkenswerten Satz, dass hier tatsächlich einmal diese vielen Gruppen und Initiativen mit einer Stimme sprächen, was den Journalisten erstaunte, da doch – so weiter in diesem Artikel – „Menschen und Organisationen, die sich auf die Führung durch den Heiligen Geist berufen, eher zu Trennungen als zu Zusammenschlüssen neigen“.

Neigt der Heilige Geist zur Kirchenspaltung?Diese Bemerkung hat mich überrascht: Kann das sein? Trennt der Heilige Geist wirklich die Christen mehr als dass er sie zusammenführt? Wirkt er denn kirchenspaltend? Oder liegt hier nicht ein großes Missverständnis vor? Ein Missverständnis von der Wirksamkeit des Geistes Gottes unter uns?
Ein solches Missverständnis ginge im zitierten Fall allerdings nicht alleine auf das Konto jenes Journalisten, der über einen der Kongresse von „Miteinander für Europa“ berichtete. Denn tatsächlich ist es ja so, dass gerade unter Berufung auf den Heiligen Geist in der Geschichte der Christenheit immer neue Spaltungen und Abtrennungen von Kirchen und Gemeinschaften entstanden sind. Dieses Missverständnis liegt also überall dort vor, wo man sich in betonter Absetzung von anderen Christen auf den Heiligen Geist beruft, meist noch mit dem heimlichen Gefühl, eine „bessere“ Form von Christsein darzustellen. Dem steht der Predigttext für das diesjährige Pfingstfest auf eindrucksvolle Weise entgegen.

Ostern und Pfingsten – zwei Seiten einer MedailleFür die Jüngerinnen und Jünger Jesu gab es nach dessen Tod zwei einschneidende Erfahrungen. Die erste war: Sie begegneten dem auferstandenen Herrn, und die zweite: Sie erlebten die Erfüllung mit dem Heiligen Geist. Ostern und Pfingsten – beides hat seine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Christenheit.
Nach dem Tod Jesu befanden sich diejenigen, die ihn erlebt hatten, in einer tiefen Depression. Alle Hoffnungen, mit diesem Jesus würde sich, wenn schon nicht die Welt im großen politischen Maßstab, so doch wenigstens die Lebenswelt im Kleinen auf entscheidende Weise verändern, waren mit einem Mal zerschlagen. Die lebensschaffende und heilende Kraft, die von Jesu Worten ausging, ja von ihm selbst, so wie er lebte, dachte und handelte, war durch den gewaltsamen Tod, den er am Kreuz erlitt, quasi über Nacht erloschen. Nun beherrschten nicht nur Angst und Sorge, sondern vor allem Enttäuschung und Mutlosigkeit die Gemüter der Anhänger Jesu. In dieser Situation war es sozusagen lebensnotwendig, dass sie dem auferstandenen Jesus begegneten und in diesen Begegnungen den Weg zurück ins Leben fanden. Ohne diese Erlebnisse wäre die ganze Geschichte wirklich nichts anderes gewesen als ein Spuk.
Doch bei diesen geheimnisvollen Begegnungen mit dem auferstandenen Jesus, von denen uns die Evangelien in so unterschiedlicher, ja auch widersprüchlicher Weise berichten, konnte es allein nicht bleiben. Sie hatten am Anfang zwar große Bedeutung für das verängstigte und versprengte Häuflein der Jüngerinnen und Jünger. Aber sie waren eine Art Ausnahmezustand. Sie waren noch nicht das andere, das neue Leben selbst, sondern nur der Weg dorthin. Und ganz entscheidend: Diese Erlebnisse hatten unmittelbare Bedeutung nur für die erste Generation, für die, die Jesus noch zu seinen Lebzeiten kannten. Um den Glauben an ihn weiterzutragen, über alle räumlichen und zeitlichen Grenzen hinweg, musste etwas anderes geschehen: die Erfüllung mit dem Geist Gottes, dem Geist Christi.

Die eigentliche Geburtsstunde des ChristentumsPfingsten ist eigentlich die Geburtsstunde des Christentums. Hier werden Menschen fähig, im Geist Jesu Christi zu leben, zu denken und zu handeln. Zu Pfingsten in Jerusalem werden Menschen zu Christen, indem sie mit dem Geist Jesu Christi erfüllt werden.
In der biblischen Pfingstgeschichte wird dieses Ereignis in Bilder gefasst. Wie sollte man auch anders von dem reden können, was Menschen tief in ihrem Innersten ergreift, zunächst einmal also unsichtbar bleibt für die Außenwelt? Ein bekanntes und viel zitiertes Bild dafür ist das Feuer, das sich auf die Jüngerinnen und Jünger herabgelassen hat. Menschen werden angesteckt vom Feuer Gottes, angesteckt mit der Flamme der Liebe Christi – wie es in einem Lied heißt. Sie werden erfasst vom Feuer der Begeisterung. Sie beginnen, innerlich zu glühen, zu brennen für diese neuen Lebensmöglichkeiten, die ihnen mit Jesus eröffnet wurden, für seinen Glauben, seine Liebe, seine Hoffnung. „Brannte nicht unser Herz ...“ – so empfanden es bereits die beiden namenlosen Jünger aus Emmaus auf ihrem Rückweg von Jerusalem, als sie ihre verborgene Begegnung mit Jesus hatten. Nun brennen die Herzen vieler, die Jesus noch aus Lebenstagen kannten und sich nun bewegt und belebt sehen vom Feuer des Geistes Gottes.

Ein Feuer – viele FlammenDass dieses Feuer sich in viele einzelne Flämmchen zerteilt und jeden einzeln ansteckt, ist für mich dabei kein unerhebliches Detail. Es macht deutlich, dass es ein Geist ist, der diese Menschen erfüllt, die doch so unterschiedlichen Charakters gewesen sein dürften, so unterschiedlich gefühlt und gedacht haben werden wie wir heute auch. Es ist ein Geist, aber er wirkt in jedem einzelnen auf individuelle und unterschiedliche Weise. So ist der Geist Gottes: universal und doch individuell, allen gemeinsam und doch in jedem anders.
Dies bestätigt sich auch noch in einem zweiten Detail: Die Bewohner Jerusalems, die zu unfreiwilligen Zeugen dieser Begebenheit werden, hören die Jüngerinnen und Jünger Jesu mit einem Mal in sehr unterschiedlichen Sprachen reden. Jerusalem war eine Stadt, in der Menschen unterschiedlichster Nationen lebten. Hier sprach man aramäisch oder römisch, vielleicht auch griechisch unter den Gebildeten. Das erstaunliche war aber nun: Menschen hörten plötzlich ihre Muttersprache und zwar aus dem Munde von Leuten, die sie diese Sprache bislang nicht haben reden hören, die diese Sprache auch gar nicht erlernt haben.

Sprache – ein ambivalentes PhänomenDas Sprachenwunder von Pfingsten macht uns so auf eine ganz zentrale Wirksamkeit des Geistes Gottes aufmerksam. Sprache ist ja ein ambivalentes Phänomen: Sie verbindet, stellt eine Brücke her zwischen Menschen, aber sie trennt auch. Ohne Sprache wären wir vereinzelt und voneinander isoliert. Die Sprache befähigt uns dazu, uns einander mitzuteilen, einander zu verstehen. Doch zugleich trennt Sprache auch, denn es gibt eben nicht nur eine Sprache auf der Welt, sondern viele. Wer einmal in einem Land war, dessen Sprache er nicht spricht, weiß, wie trennend Sprache genau dann wirkt, wenn man sie nicht beherrscht. Freilich, man kann Fremdsprachen lernen. Doch es wird auch dann immer eine Fremdsprache bleiben und nicht die Muttersprache sein, in der man sich zuhause fühlt, die die Sprache des eigenen Herzens ist. Das Trennende der Sprache beginnt schon in den ersten Lebensmonaten: Wenn ein Kind die Sprache der Eltern zu lernen beginnt, werden Weichen gestellt, die genau dorthin münden – dass nämlich Sprache zugleich als verbindend wie als trennend erfahren wird.
Das Sprachenwunder von Pfingsten überwindet jedoch alle Sprachbarrieren. Dort, wo Menschen sonst an die Grenzen ihrer Verstehensmöglichkeiten gelangen, wird durch die Wirksamkeit des Geistes Gottes plötzlich neues Verstehen möglich. Der Geist Gottes bewirkt Verstehen, wo Verständigung sonst erfahrungsgemäß schwierig wird – an den Grenzen der Muttersprache. Was sich sonst fremd bleibt, verbindet Gottes Geist.

Von Babel nach JerusalemMan hat die Pfingsterzählung immer wieder als Gegengeschichte zur Turmbauerzählung von Babel gedeutet. Über dem ehrgeizigen Projekt, einen Monumentalbau zu errichten, an dem ein für allemal die Größe des Menschengeschlechts abgelesen werden soll, zerbricht die menschliche Gemeinschaft. Unter der Wirkung des Geistes Gottes wird sie von neuem geschaffen.
Die vielen Sprachen, von denen die Pfingstgeschichte spricht, sind „nur“ ein Bild. Sie stehen für unterschiedliche Kulturen und Traditionen, aus denen heraus Menschen leben. Sie stehen für unterschiedliche Lebensformen und verschiedene Glaubensprofile. Die Familie der Christenheit auf diesem Globus ist groß und verschieden – so verschieden, dass es manchmal schwer fällt, die Übereinstimmungen zu entdecken.
So ist es auch in der Bewegung „Miteinander für Europa“ intendiert: über die Grenzen von Sprachen und Kulturen, von Ländern und Regionen, von Konfessionen und Frömmigkeitskulturen hinweg das Gemeinsame zu entdecken und den Geist Gottes zusammenführend wirken zu lassen.
Wir sehen schneller und leichter das Trennende. Doch Gottes Geist hält diese Familie der Christenheit zusammen und verbindet alle, die zu ihr gehören – gleich, welche „Sprache“ sie sprechen beziehungsweise aus welchem „Stall“sie stammen. Wenn Trennendes zwischen uns steht, so sollten wir uns darum vielleicht eher selbstkritisch fragen, ob wir uns selbst im Wege stehen und ob wir wirklich schon genug vom Geist Gottes erfüllt sind.
Amen.

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