Pfingstsonntag (19. Mai 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Hans Joachim Stein, Murrhardt [hans-joachim.stein@elkw.de]

Ezechiel 37,1-14

IntentionWas macht mich lebendig? Und zwar nicht nur organisch, sondern umfassend? Dieser Frage geht die Predigt nach. Sie will die Sehnsucht nach Leben wecken und dazu ermuntern, sich neu vom Atem Gottes beleben und stärken zu lassen.
Es empfiehlt sich, den auf die Predigt abschnittsweise aufgeteilten Bibeltext von einer anderen Person lesen zu lassen.

Was macht mich lebendig?Was macht mich lebendig? Ich meine: so richtig lebendig? Was macht mich so lebendig, dass ich spüre, wie das Leben in mir pulsiert? Es ist ja nicht immer so, dass ich das Leben in mir spüre. Mein Herz schlägt, mein Hirn arbeitet, die Organe funktionieren – und doch fühle ich mich manchmal ganz und gar nicht lebendig. Wenn mir alles zu viel wird, wenn ich verzweifelt bin, wenn ich kein Licht mehr sehe. Dann lebe ich zwar noch, aber lebendig fühle ich mich nicht. Ich funktioniere, aber lebendig bin ich nicht. Was macht mich dann wieder lebendig? Was richtet mich auf und zeigt mir einen Weg?
Ich frage einen, der sich damit auskennt, den Propheten Hesekiel. Er hat gesehen, wie ein ganzes Heer von Toten lebendig wurde:
Hesekiel 37, 1-8:
„Des HERRN Hand kam über mich, und er führte mich hinaus im Geist des HERRN und stellte mich mitten auf ein weites Feld; das lag voller Totengebeine. Und er führte mich überall hindurch. Und siehe, es lagen sehr viele Gebeine über das Feld hin, und siehe, sie waren ganz verdorrt. Und er sprach zu mir: Du Menschenkind, meinst du wohl, dass diese Gebeine wieder lebendig werden? Und ich sprach: HERR, mein Gott, du weißt es. Und er sprach zu mir: Weissage über diese Gebeine und sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine, höret des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Und ich weissagte, wie mir befohlen war. Und siehe, da rauschte es, als ich weissagte, und siehe, es regte sich und die Gebeine rückten zusammen, Gebein zu Gebein. Und ich sah, und siehe, es wuchsen Sehnen und Fleisch darauf und sie wurden mit Haut überzogen; es war aber noch kein Odem in ihnen.“

Zur Lebendigkeit braucht es den Körper …Hesekiel sieht Knochen, tote Knochen. Über ein weites Feld liegen sie verstreut. Wie soll daraus neues Leben wachsen? Das geht doch gar nicht. Doch, das geht! Weil Gott es sagt, geht es. Hesekiel spricht, und es kommt Bewegung in die Knochenwüste. Ein Wind bläst und die Knochen sortieren sich. Haut und Fleisch legen sich über sie, Organe, Muskeln und Blutgefäße wachsen heran. Aus zerstreuten Knochen werden wieder menschliche Körper.
Für ein lebendiges Leben braucht es den Leib. Lebendig fühlen kann ich mich nur im Körper. Und es ist ja auch so: Dass das Leben pulsiert, dass mein Herz vor Aufregung pocht, dass es im Bauch vor Liebe kribbelt, dass ich Freude, Glück und Begeisterung empfinden kann – das geht alles nur, weil ich einen Körper habe. Alle Erfahrungen, bei denen ich das Leben in mir spüre, sind körperliche Erfahrungen. Ich brauche meinen Körper, um mich lebendig zu fühlen.
Aber nicht nur. Fleisch und Blut allein machen’s nicht. Die Körper in Heseskiels Vision haben alles, was sie brauchen, aber lebendig sind sie noch nicht. Sie liegen noch reglos auf dem Boden. Noch können sie sich nicht aufrichten und bewegen. Da fehlt noch was. Hören wir noch einmal auf Hesekiel:

… und den Geist. Erst der Geist macht umfassend lebendig.Hesekiel 37, 9-10:
„Und Gott sprach zu mir: Weissage zum Odem; weissage, du Menschenkind, und sprich zum Odem: So spricht Gott der HERR: Odem, komm herzu von den vier Winden und blase diese Getöteten an, dass sie wieder lebendig werden! Und ich weissagte, wie er mir befohlen hatte. Da kam der Odem in sie, und sie wurden wieder lebendig und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer.“

Was noch fehlt, das ist der Atem Gottes. Der Atem, der Wind, der Geist Gottes. Er erst macht die reglosen Körper lebendig. Atem Gottes – ich denke zurück an den Anfang, wie ihn die Bibel beschreibt. Gott formte den Menschen aus Staub und Erde. Aus Staub und Erde entstand der Körper. Lebendig aber wurde er erst dadurch, dass Gott ihm seinen Atem, seinen Geist in die Nase blies. Ich denke auch an Ostern, das gerade hinter uns liegt. Der Apostel Paulus sagt vom Geist Gottes, dass er Jesus von den Toten auferweckt hat und auch uns lebendig macht. Der Geist bringt nicht einfach nur irgendein Leben, er bringt neues Leben, Leben, das stärker ist als der Tod.
Dieser Atem des Anfangs, dieser Geist der Auferstehung schafft, was Fleisch und Blut aus sich selbst heraus nicht schaffen. Er erhebt die Körper aus dem Staub, er richtet sie auf und stellt sie auf die Füße. Was sie auch niedergedrückt hat, was sie auch zu Boden geworfen hat, was ihnen auch das Leben genommen hat – der Geist erweist sich als stärker. Er durchpustet die Körper wie ein frischer Wind. Und wo immer er hinströmt, bringt er Leben. Bis in die letzte Zehenspitze dringt seine Kraft. So können die Körper sich aufrichten, sich auf ihre eigenen Füße stellen und gehen.

Der Geist haucht dem Körper Lebenskraft und Zuversicht ein.Wie macht der Geist die Toten lebendig, wie richtet er die Niedergeschlagenen auf? Hören wir ein letztes Mal auf Hesekiel:
Hesekiel 37, 11-14:
„Und Gott sprach zu mir: Du Menschenkind, diese Gebeine sind das ganze Haus Israel. Siehe, jetzt sprechen sie: Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns. Darum weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will eure Gräber auftun und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf und bringe euch ins Land Israels. Und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern heraufhole. Und ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt, und will euch in euer Land setzen, und ihr sollt erfahren, dass ich der HERR bin. Ich rede es und tue es auch, spricht der HERR.“

Ich glaube, es ist die Zuversicht, die den Unterschied zwischen den am Boden zerstörten und den aufgerichteten Körpern macht. Gottes Geist bringt Zuversicht. Gott haucht den darniederliegenden Körpern Zuversicht ein. Erst die Zuversicht macht sie lebendig, lässt sie aufstehen und losgehen.
Dietrich Bonhoeffer spricht vom Optimismus. Er nennt ihn „eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignieren, eine Kraft den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern für sich in Anspruch nimmt“ (Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 8, S. 36).
Genau diese Kraft lässt die Körper auf dem Totenfeld lebendig werden. Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit haben ihnen das Leben genommen, Zuversicht lässt sie wieder neu lebendig werden. Wo die Zuversicht wirkt, stehen Tote auf, erheben ihr Haupt und brechen auf in die Zukunft.
In Zeiten wie diesen, in denen die Nachrichten uns die Luft zum Atmen nehmen, brauchen wir dringend Zuversicht. In Zeiten wie diesen hilft es nicht, den Kopf in den Sand zu stecken, Hass zu schüren und radikal zu wählen. Es hilft allein eine Zuversicht, die noch an die Zukunft glaubt und darum kraftvoll anpackt, was zu tun ist. Wir können sie nicht machen, diese Zuversicht. Aber wir können Gott um sie bitten und sie uns von ihm einhauchen lassen. Möge Gott sie gerade jetzt im Superwahljahr ausströmen, damit nicht die ewig Gestrigen gewinnen, sondern die Weichen für eine weite, hoffnungsvolle Zukunft gestellt werden können.
Zuversicht brauchen aber nicht nur wir hier in Deutschland. Zuversicht braucht heute wie damals bei Hesekiel auch das ganze Haus Israel. Nach dem 7. Oktober lagen nicht nur die Leichenteile verstreut über ein weites Feld. Auch die Hoffnung lag am Boden. Die Hoffnung, nach einer langen Geschichte voller Ablehnung und Verfolgung endlich ein sicheres Zuhause gefunden zu haben. Wie viele Juden werden das seit dem letzten Oktober gesagt haben: „Unsere Gebeine sind verdorrt, und unsere Hoffnung ist verloren, und es ist aus mit uns.“ Beten wir, dass Gott seinen Atem wieder einhaucht in das Haus Israel. Damit es wieder aufsteht und lebt. Mit Freude und Zuversicht. Und mit ihm alle, die guten Willens sind.
Amen.

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