Quasimodogeniti (16. April 2023)

Autorin / Autor:
Landesbauernpfarrerin Sabine Bullinger, Hohebuch [s.bullinger@hohebuch.de]

1. Mose 32,23-32

IntentionUmbrüche und Aufbrüche, manchmal sogar Zusammenbrüche, bestimmen unser Leben. Die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok nimmt uns hinein in ein bewegtes Leben, das eine dramatische Wendung nimmt. Was tun, wenn ein Mensch daran gehindert wird weiterzukommen?

Liebe Gemeinde,
stellen Sie sich vor, Sie würden gefragt werden, welche Bibelstelle Sie in Ihrem Leben besonders geprägt habe oder welche Ihnen besonders wichtig geworden sei. Mir wurde diese Frage vor vielen Jahren gestellt. Was ich damals geantwortet habe, weiß ich nicht mehr. Aber die Antwort eines anderen aus der Gruppe habe ich bis heute nicht vergessen. Er nannte die Bibelstelle: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“ (Gen 32,27). Diese Antwort, dieser Satz aus der Bibel und die damit verbundene Geschichte, bringen mich bis heute immer wieder neu zum Nachdenken. Es ist der heutige Predigttext. Hören Sie die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok:

„Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog durch die Furt des Jabbok. Er nahm sie und führte sie durch den Fluss, sodass hinüberkam, was er hatte. Jakob aber blieb allein zurück. Da rang einer mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, rührte er an das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob nannte die Stätte Pnuël: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.“

Jakob – listig, verletzt, gesegnetEin kleiner Rückblick auf Jakobs Leben: Jakob und Esau, so heißen die Zwillingssöhne von Isaak und Rebekka. Jakob ist der Zweitgeborene der beiden. Esau, der Ältere, ist Jäger. Er ist der Liebling von Vater Isaak. Jakob dagegen ist ruhiger, hält sich mehr zuhause auf und ist der Liebling von Mutter Rebekka. Eines Tages – Jakob hat rote Linsen gekocht – kommt Esau hungig und müde vom Feld. So hungrig, dass Jakob ihm dafür sein Erstgeburtsrecht abluchsen kann.
Wer das Erstgeburtsrecht hat, braucht auch den Erstgeburtssegen. Jakob erschleicht sich ihn mit Hilfe seiner Mutter. So setzt Jakob trickreich durch, was er zuvor seinem Bruder „abgelinst“ hat. Bevor die Situation zuhause eskaliert, hat Mutter Rebekka eine Idee: Jakob geht zu ihrem Bruder Laban in ihre Heimat, um dort eine passende Frau zu finden. Jakob macht sich auf den Weg. Dort findet er seine beiden Frauen, die Schwestern Lea und Rahel, die Töchter von Laban. Rahel, die geliebte, und Lea, die ihm von seinem Schwiegervater untergeschobene. So wird Jakob also auch ausgetrickst. Dafür gelingt ihm seine List mit den Herden der gescheckten und bunten Tiere seines Schwiegervaters Laban umso besser. So kommt Jakob zu eigenem Viehbesitz.
Mit Frauen, Kindern und Herden zieht Jakob irgendwann weg von Laban Richtung alte Heimat. Wie würde er nach all dem Geschehenen seinem Bruder Esau begegnen? Um Esau gnädig zu stimmen, wählt er von seinen Herden großzügig aus und schickt diese vor. Seine Frauen und Kinder setzt er schon einmal über den Grenzfluss. Allein bleibt er in dieser Nacht am Ufer des Jabbok zurück und kämpft mit dem, der sich ihm in den Weg stellt. Ist es eine dunkle Macht, die hier zuschlägt? Oder ist es gar Gott selber, mit dem er kämpfen muss? Für Jakob ist klar: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Den Namen dessen, der mit ihm gekämpft hat, wird er nie erfahren. Aber er wird aufbrechen in ein neues Leben. Aus Jakob, dem Betrüger, wird Israel, der mit Gott Kämpfende. Die Sonne geht ihm auf. Jakob ist vom Leben verletzt und doch gesegnet.

Brüche im LebenZum Glück verlaufen die wenigsten Leben so aufregend wie das von Jakob. Aber ohne Risse, Brüche, Umbrüche, Zusammenbrüche und Aufbrüche geht es eigentlich nie ab. Das Leben hinterlässt seine Spuren und verläuft meist nicht geradlinig.
Wie entstehen Risse? Manchmal sind es verletzende Worte, achtlos hingeworfene Bemerkungen. Manchmal ist es rücksichtloses Verhalten oder das Gefühl, benachteiligt zu werden. Erwartungen werden enttäuscht. Hoffnungen lösen sich in Nichts auf. Die Konkurrenz ist zu stark. Der Druck, nachgeben zu müssen, ist übermächtig.
Im Laufe der Zeit können aus Rissen Brüche werden. Abbrüche, Grabenbrüche, Zusammenbrüche.
Was tun, wenn man am Abgrund steht, der Graben tief, die Nacht schwarz und der Weg von Hindernissen übersät ist? Mit wem haben wir es dann zu tun – mit Gott oder mit einem Dämon? Woher kommt diese Macht einer Person, die uns am Weiterkommen hindert? Fragen ohne Antworten. Es führt nicht weiter, immer wieder dieselben Fragen zu stellen. Man dreht sich im Kreis. Womöglich ein Teufelskreis.

AufbrücheJakobs Kampf am Jabbok zeigt, dass die Fragen nach dem Wer, dem Woher und Warum unbeantwortet bleiben. Es ist anderes, was schwierige Konstellationen aufbricht und in die Zukunft führt.
Zum einen: Jakob stellt sich der Situation. Er ergibt sich nicht seinem Schicksal. Er ringt mit dem Unbekannten. Er gibt nicht auf. Er hält an ihm fest. Er will etwas von ihm.
Es erinnert mich an die Ausdauer des blinden Bartimäus, der so lange ruft, bis ihn Jesus hört (Mk 10,46ff), und an die Penetranz der bittenden Witwe, die so lange zum Richter kommt und ihr Recht fordert, bis er sich für sie einsetzt (Lk 18,1ff).
Es passiert, dass verheißungsvolle Wege verstellt sind, Hoffnungen enttäuscht werden und Menschen gebrochen werden. Jakob ermutigt zur Ausdauer und zur Beharrlichkeit vor Gott: sich festhalten an dem, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden.

Zum anderen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Das ist eine Ansage. Kein Bitten und Betteln. Jakob lässt sich nicht abschütteln.
Menschen erleiden Schlimmes, kommen an ihre Grenzen, müssen Niederlagen einstecken. Die Frage ist: Werden sie dadurch bitter? Lassen sie sich von der Verzweiflung niederdrücken? Jakob zeigt uns den Mut des Verzweifelten: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Verrate mir, wer du bist. Zeig mir, was du kannst. Segne mich. Jakob ermutigt, sich Segen zu erringen und darum zu kämpfen, auch wenn wir denken, es gibt keine Zukunft mehr.

Zum dritten: Jakob geht aus dieser Nacht und aus diesem Kampf als ein anderer Mensch hervor. Sein neuer Name benennt dies. Von nun an ist er nicht mehr Jakob, „der Betrüger“, der seinen Bruder um Erstgeburtsrecht und Erstgeburtssegen beraubt hat. Jetzt soll er Israel heißen, „Gotteskämpfer“, weil er mit Gott und mit Menschen gekämpft hat und dabei nicht unterlegen ist. Ihm ist die Sonne aufgegangen.
Jakobs Geschichte zeigt: Die Begegnung mit Gott verändert einen Menschen. Wer Gott begegnet, wer mit ihm ringt, wird gleichsam ein neuer Mensch. Am Ende steht kein strahlender Sieger mit stolzem Gang, sondern ein vom Leben gezeichneter Mensch, hinkend, aber bereit, den Fuß neu in die alte Heimat zu setzen und sich dem zu stellen, was auf ihn zukommt.

Eine Geschichte fürs LebenWürde mich heute jemand nach einer für mein Leben besonders wichtigen Bibelstelle fragen, dann würde ich vielleicht auch diesen Satz nennen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Es ist ein Satz, der Mut macht, an Gott festzuhalten, egal, was das Leben bringt. Ein Satz, der Kraft gibt, mit Gott zu ringen und ihn nicht loszulassen, bis er einen segnen möge. Ein Satz, der neue Zukunft verheißt. Der uns zu Menschen werden lässt, die sich auf Neues in dieser unserer Welt einlassen. „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.“ Amen.



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