Reformationsfest (31. Oktober 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Jörg Bauer, Stuttgart [jo.bauer@klinikum-stuttgart.de]

Galater 5, 1-6

IntentionIch wollte zum Reformationstag „die Rechtfertigungslehre“ Martin Luthers, die auf dem Damaskuserlebnis des Apostels Paulus fußt, für heutige Menschen relevant machen. Sie ist angesichts der vielen „Selbstoptimierungsaufforderungen“, denen wir heutigen Menschen ausgesetzt sind, aktueller denn je: Vor Gott bin ich um Jesu Christi willen „recht“.
Dabei habe ich versucht, weder „Gesetzbashing“ zu betreiben, noch in antiökumenische Ressentiments („katholische Werkgerechtigkeit“, die es zu Luthers Zeit so gegeben haben mag) zu verfallen.
Die Frage, warum sich die Galater beschneiden ließen, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert: Wollten sie so eine „bessere“ Frömmigkeit erreichen? Oder ließen sie sich beschneiden, um in den Augen des römischen Staates als Juden zu gelten, was sie vor Verfolgungen aller Art geschützt hätte? Eine Predigt ist m.E. jedoch nicht der Ort, diese Frage ausführlich zu beantworten. Deshalb nur Andeutungen diesbezüglich.

5,1-6 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen! Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen. Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist. Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, aus der Gnade seid ihr herausgefallen. Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die wir hoffen. Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.

Liebe Gemeinde,
„Freiheit“ – das war und ist das große Thema des früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck. Freiheit von staatlicher Bevormundung. Freiheit von der Gängelung einer Partei. Jeder Mensch, jede Bürgerin und jeder Bürger muss und soll selber entscheiden dürfen, wie er lebt, was er glaubt, was er denkt, wes Geistes Kind er sein will. Das alles geht den Staat nichts an. „Freiheit“ ist für den früheren DDR-Bürger Joachim Gauck dann natürlich auch die Freiheit des Menschen, dahin zu gehen, dorthin zu reisen und zu leben, wohin er will. Solche Freiheiten sind ein hohes Gut. Wir sollten sie auch im 32. Jahr der deutschen Wiedervereinigung nicht gering schätzen und sie verteidigen, wo immer wir können.
„Freiheit“ – das war auch das große Lebensthema Martin Luthers und der Reformation, deren wir heute gedenken. In seiner „Freiheitsschrift“ von 1520 heißt das so:

„Damit wir gründlich erkennen, was ein Christenmensch ist und wie es mit der Freiheit steht, die ihm Christus erworben und gegeben hat, wovon Paulus viel schreibt, will ich diese zwei Sätze aufstellen:
Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“

Wie gewaltige Fanfarenstöße hallten diese zwei Sätze in der damaligen Zeit wider – und befreiten die einen von einem Leben in Angst vor Gott und machten die anderen sehr zornig: Wie kann dieser Mönch aus Wittenberg so reden? So öffnet er doch dem Chaos Tür und Tor, wenn alle frei sind und keiner Obrigkeit mehr gehorchen müssen. Nicht dem Staat und nicht mehr der Kirche.
Martin Luther kommt zu seinen Freiheitssätzen nicht von ungefähr. Er meint sie auch nicht als Aufforderung dazu, dass jetzt alle machen können, was sie wollen, ohne Rücksicht auf Verluste der Freiheit der anderen. Er hat sie von Paulus gelernt: Wovon Paulus viel schreibt…
Als Christenmenschen sind wir zu einem freien Leben befreit. Zu einem Leben in Freiheit. Klingt gut. Ist gut. Ist gut, wenn wir stets den Urheber der Freiheit mitbedenken: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“

Christus, Jesus von Nazareth, hat uns durch sein Leben und Sterben befreit, von „Sünde, Tod und Teufel“, wie das die Menschen in früheren Zeiten nannten. Zu einem Leben mit Gott, zu einem Leben in seiner Liebe, die keine Grenzen kennt.
Der Schlüssel zu einem solchen Leben mit Gott ist der Glaube, das Vertrauen, dass Christus alles, wirklich alles aus der Welt geschafft hat, was mich bedroht, bedrückt und mir zu schaffen macht. Ich bin frei. Befreit davon. Ein anderer kümmert sich und macht alles gut.
Und ich sage: „Da bin ich, Jesus von Nazareth. Kümmere du dich um mich, so wie ich bin.“
Das ist Glaube. Vertrauen. Da öffnet sich das Tor zur Freiheit eines Christenmenschen, der nichts und niemand mehr fürchten muss. Am wenigsten die Angst, weder Gott noch diesem Leben zu genügen.
Das hat Martin Luther von Paulus gelernt. Und Paulus? Woher hat der das? Dass dieser Christus alles recht gemacht hat mit uns und der Welt? Dass das Vertrauen zu ihm genügt für Zeit und Ewigkeit?
Der fromme, der rechtschaffene Jude Paulus kommt zu diesem Ergebnis durch ein Erlebnis, das ihn im Wortsinn umgeworfen hat. Damals vor Damaskus, als es Paulus wie ein Blitz traf und er am Boden liegend fragte: „Herr, wer bist du?“ Und er die Antwort bekam: „Ich bin Jesus, den du verfolgst!“
Da gingen Paulus die Augen auf, von jetzt auf nachher: Jesus von Nazareth. Gottes Sohn. Retter. Befreier. Da wurde Paulus sozusagen umcodiert. Vom rasenden Verfolger der Christen und Christinnen zum leidenschaftlichen Botschafter für Christus. Von da an, seit seinem Damaskuserlebnis, hatte der fromme Jude Paulus nur noch eine Geschichte zu erzählen: Christus ist Dreh- und Angelpunkt eines Lebens mit Gott. Glaube ist Vertrauen zu ihm. Das zählt. Nur das. Das macht recht vor Gott und den Menschen. Macht Juden und Heiden recht. Die ganze Welt.

Wohlgemerkt: Nur deshalb dürfen wir als nachgeborene, spätgeborene ehemalige Heiden so über Christus predigen und ihn in die Mitte stellen. Nur deshalb, weil das einem Juden, dem Juden Paulus aufgegangen ist, als ihn Christus so spektakulär umgeworfen und gewonnen hat.
Dann müssen wir aber auch noch fragen: Die Galater, die Menschen in Galatien – das waren doch Christen mit Christus in der Mitte ihres Lebens? Warum warnt sie dann Paulus so nachdrücklich vor der Beschneidung? Was steckt dahinter?
Vielleicht waren sie der Meinung, dass die ja nicht schaden könne. Vielleicht dachten sie: Das gefällt Gott besonders? Vielleicht kamen sie zu dem Entschluss: Wir tun noch ein Übriges. Christus ja, dann aber auch noch dieses und jenes. Bestimmt nicht schlecht.
Irrtum, liebe Leute! Wenn ihr euch beschneiden lasst, um besonders gute Christenmenschen zu sein, wird euch Christus nichts nützen. Entweder gilt ein für alle Mal: Christus als Maßgeber und Taktgeber eures Lebens. Oder: Christus verkleinert, als doch nicht ausreichend erachtet. Christus verloren. Ein Drittes gibt es nicht. Punkt.

Liebe Gemeinde, es geht hier um alles, um das Leben mit und in Gott oder dann doch noch Selbstoptimierung, wovon heute so viel gesprochen wird. Wenigstens ein bisschen. Christus, ja, dann aber auch noch mein Wissen, meine besondere Frömmigkeit, meine Bedeutung und Wichtigkeit. Dieses oder jenes macht mich noch besser, zu einem noch besseren Christenmenschen. Nein, das alles mögen schöne Sachen sein. Wichtige Dinge. Manchmal aber auch oft viel zu wichtig genommen in der Welt und ja, leider auch in der Kirche – und so gnadenlos.
Im Glauben an Christus, der alles gut gemacht hat, gibt es keine zusätzlichen Absicherungen, Sicherheiten, Vervollständigungen – nur das Wagnis des Glaubens: „Da bin ich…“
Sonst nichts. Nothing. Nada.
So sind wir wirklich frei, Herren und Damen aller Dinge, die von sich behaupten: Ich bin auch wichtig. Du brauchst mich. Du musst auch mir gehorchen, mich beachten. Nein, müssen wir nicht. Glaube. Vertraue. Fürchte dich nicht.
Nur so sind und werden wir zugleich auch Knechte und Mägde aller Dinge und jedermann untertan. Will heißen: Nur so glauben wir, nur so lieben wir, sehen den anderen, den Mitmenschen. Nur so sehen wir ihn in seiner Not – und packen an. Lieben und helfen ihm, so gut wir können. Das ist der Glaube, der in der Liebe tätig ist.
Der Reformationstag stellt uns mit Paulus und dann auch mit Martin Luther das Zentrum unseres christlichen Glaubens und des Mitmenschenseins vor Augen. Wem glauben wir? Wem vertrauen wir?
Christus – und? Christus allein. Das ist Freiheit. Seligkeit, auf die wir hoffen. Amen.

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