Reminiscere / 2. Sonntag der Passionszeit (05. März 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Christiane Wille, Esslingen [christiane.wille@elkw.de]

Markus 12, 1-12

IntentionDer Blick auf die Geschichte des menschlichen Umgangs mit dieser Welt führt leicht in desillusionierte Resignation. Dagegen möchte die Predigt einen anderen Blick eröffnen: Gottes Liebe zu dieser Welt widersetzt sich der Logik von Ausbeutung und Gewalt. Gottes geduldige Liebe und seine nicht schwindende Hoffnung auf Veränderung machen Mut, auch selbst weiter auf Veränderung zu hoffen.

Liebe Gemeinde,
der Text für den heutigen Sonntag steht im Markusevangelium im 12. Kapitel (V.1-12): Das alte Lied vom Weinberg.

„Und er fing an, zu ihnen in Gleichnissen zu reden: Ein Mensch pflanzte einen Weinberg und zog einen Zaun darum und grub eine Kelter und baute einen Turm und verpachtete ihn an Weingärtner und ging außer Landes. Und er sandte, als die Zeit kam, einen Knecht zu den Weingärtnern, damit er von den Weingärtnern seinen Anteil an den Früchten des Weinbergs nähme. Da nahmen sie ihn, schlugen ihn und schickten ihn mit leeren Händen fort. Abermals sandte er zu ihnen einen andern Knecht; dem schlugen sie auf den Kopf und schmähten ihn. Und er sandte einen andern, den töteten sie; und viele andere: die einen schlugen sie, die andern töteten sie. Da hatte er noch einen, den geliebten Sohn; den sandte er als Letzten zu ihnen und sagte sich: Sie werden sich vor meinem Sohn scheuen. Sie aber, die Weingärtner, sprachen untereinander: Dies ist der Erbe; kommt, lasst uns ihn töten, so wird das Erbe unser sein! Und sie nahmen ihn und töteten ihn und warfen ihn hinaus vor den Weinberg. Was wird nun der Herr des Weinbergs tun? Er wird kommen und die Weingärtner umbringen und den Weinberg andern geben. Habt ihr denn nicht dieses Schriftwort gelesen (Ps 118,22-23): ‚Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, der ist zum Eckstein geworden. Vom Herrn ist das geschehen und ist ein Wunder vor unsern Augen?‘ Und sie trachteten danach, ihn zu ergreifen, und fürchteten sich doch vor dem Volk; denn sie verstanden, dass er auf sie hin dies Gleichnis gesagt hatte. Und sie ließen ihn und gingen davon.“

Liebe Gemeinde,
Jesus erzählt ein Gleichnis. Es fängt schön und verheißungsvoll an: Da pflanzt einer einen Weinberg und gibt sich dabei viel Mühe.
Aber eh man es sich versieht, verwandelt sich die schöne Geschichte in ein blutiges Horrorszenario.
Die Geschichte vom Weinberg ist nicht neu. Schon im Hohelied der Liebe und beim Propheten Jesaja ist von einem Weinbergbesitzer und seinem Weinberg zu lesen, und hier wird der Besitzer des Weinberges mit Gott identifiziert (Jes 5,1-7).
Der Weinbergbesitzer ist also Gott, und sein Weinberg ist das Volk Israel, oder vielleicht auch die ganze Schöpfung.
Gott hat alles gut gemacht. Und dann überlässt er es anderen. Er vertraut das, was er gepflanzt hat, anderen an.
Aber die vergessen, dass der Weinberg nicht ihnen gehört. Sie wollen über ihn verfügen, sich an ihm bereichern. Und dafür schrecken sie vor nichts zurück. Schlagen und töten die Knechte und am Ende sogar den Sohn des Weinbergbesitzers. Als wollten sie damit den Besitzer selbst auslöschen, das Erbe für immer an sich reißen.
Das Gleichnis ist eindrücklich – aber was will Jesus damit erzählen? Wofür öffnet das Gleichnis mir die Augen?
Das hängt davon ab, worauf ich schaue:

Eine realistische Geschichte voller GewaltSchaue ich auf die eskalierende Gewalt der Pächter? Das liegt nahe. Gewalt und immer wieder Gewalt – das ist wie ein roter Faden, der sich bis heute durch die Menschheitsgeschichte zieht: in der Ukraine, im Iran, im Kongo, im Jemen und im Nahen Osten.
Die Motive ähneln sich seit Jahrtausenden: Menschen, einzelne Personen, Gruppen, Länder wollen sich bereichern, möglichst viel für sich herausholen an Land, Macht, Geld, Einfluss.
Ursprünglich wurden die Pächter vom Besitzer eingesetzt, um den Weinberg zu pflegen. Sie sollen sich um ihn kümmern und dafür sorgen, dass er gedeiht und gute Frucht bringt. Als Pächter steht ihnen ein Anteil des Ertrags zu. Nicht mehr und nicht weniger. Denn der Weinberg gehört ihnen nicht. Er ist ihnen geliehen, anvertraut.
Und das gerät in der Geschichte der Menschheit immer wieder in Vergessenheit.
Schon in der Antike werden Wälder zum Schiffsbau so rücksichtlos gerodet, dass der Mittelmeerraum bis heute entwaldet ist. Auf den Osterinseln geschieht dies im frühen Mittelalter so radikal, dass sie schließlich wegen Erosion nicht mehr bewohnbar sind.
Heute werden weltweit Ressourcen immer schneller vernichtet. Die Erderwärmung wird in Kauf genommen. Ganze Landstriche der Verwüstung oder Überschwemmung überlassen. Durch Kriege werden viele Menschenleben zerstört und immer mehr Gegenden unbewohnbar gemacht.
Das geschieht nicht ohne Widerspruch. Zur Geschichte dieser Welt gehören auch Menschen, die sagen: so geht es nicht. Die sich für Frieden und für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen.
Berühmt, geradezu sprichwörtlich geworden ist die Rede des Häuptling Seattle der Suquamish von 1854, in der dieser die Ausbeutung der Natur durch die Menschen anprangert: „Die Erde gehört nicht den Menschen, sondern die Menschen gehören zur Erde.“ Deshalb muss der Mensch achtsam mit dieser Welt umgehen.
Aber der Widerspruch gegen die Ausbeutung von Mensch und Natur hat bisher nicht zu einem grundsätzlich anderen Umgang mit dieser Welt geführt.
Wie im Gleichnis: Die Pächter leugnen, dass sie über den Weinberg nicht verfügen. Sie leugnen, dass er ihnen nur anvertraut ist. Und sie machen die mundtot, die dagegen Einspruch erheben.
Das ist die Geschichte, die sich mir zeigt, wenn ich auf die Pächter schaue. Sie fügt sich ein in ein desillusioniertes fatalistisches Bild von der Welt: Ja, brutal geht es zu und von den Menschen ist nichts Positives zu erwarten.
Deshalb scheint das, was dann angekündigt wird nur folgerichtig:
Was wird der Weinbergbesitzer machen?, fragt Jesus die Zuhörenden. Und fast betreten muss ich einräumen: In der Logik der Pächter, in der Logik von Macht und Konkurrenz, von Mord und Totschlag bleibt keine andere Antwort: er wird wohl alle Pächter umbringen und den Weinberg anderen geben.

Die erstaunliche Realität GottesAber so ist es bisher nicht gekommen. Dabei ist das Gleichnis schon 2000 Jahre alt. Der Besitzer des Weinbergs hat die Menschen nicht ausgelöscht den Menschen den Weinberg nicht weggenommen.
Und das ist doch erst einmal erstaunlich. Das passt nicht in das desillusionierte Bild von dieser Welt. Das widerspricht dem Hang zum Fatalismus.
Ich schaue nochmal neu auf das Gleichnis. Dieses Mal nicht auf die Pächter, sondern auf den Weinbergbesitzer. Dafür muss ich an den Anfang des Gleichnisses zurückkehren.
Jesus erzählt, wie der Weinbergbesitzer mit sehr viel Sorgfalt seinen Weinberg pflanzt. Wie er alles tut, alles, was man tun muss, damit es ein guter Weinberg wird. Er gibt sich Mühe, schafft, baggert und baut, tut alles, damit auf dem Weinberg etwas gedeihen kann. Zeit und Geld und vor allem Liebe hat er reingesteckt.
Der Weinbergbesitzer liebt seinen Weinberg. Gott liebt sein Volk Israel, er liebt seine Schöpfung.
Er vertraut ihn anderen an: Liebe ohne Vertrauen geht nicht. Liebe ohne Geduld auch nicht.
Er hält aber am Weinberg fest: überlässt ihn nicht einfach seinem Schicksal und denen, die sich an ihm unrechtmäßig bereichern wollen. Er bleibt dran. Deshalb schickt er immer aufs Neue Menschen, die daran erinnern: Der Weinberg ist nur geliehen.
Deshalb schickt er zuletzt seinen Sohn. Er untergräbt die Logik der Pächter, die versuchen alles für sich zu behalten: Gott hält nichts zurück, im Gegenteil: seinen Sohn, das Liebste, was er hat, gibt er hin und in ihm gibt er sich selbst – aus lauter Liebe.
Um Gottes Hingabe, um seine Liebe geht es in dem Gleichnis. Sie etabliert eine neue Logik, die alles umfasst, alles, was im Gleichnis passiert: das Unrecht der Pächter, ihre Gewalt. Sie umfasst auch den Tod der Knechte und des Sohnes.
Die Liebe Gottes ist der Hintergrund für alle Erfahrungen, die Menschen in dieser Welt machen.
Gute und schlimme Erfahrungen. An der Liebe Gottes kommt nichts auf dieser Welt vorbei.
Gott bleibt dran. Und Gott gibt nicht auf. Sein Sohn ist auferstanden. Die Botschaft von seiner Liebe ist nicht tot.
Gott wartet. Er wartet, dass seine Hingabe Früchte bringt. Er wartet, dass sich die Friedensbotschaft seines Sohnes durchsetzt. Er wartet und er ist guter Hoffnung, dass es ein Umdenken geben wird, dass andere Pächtergenerationen folgen. Generationen, die sich bewusst sind, dass ihnen diese Welt nicht gehört, sondern geliehen ist. Und die wertschätzen, was ihnen anvertraut ist.
Gott liebt, er gibt sich selbst, er wartet und hofft.
Liebe Gemeinde, wir leben davon, dass Gott wartet und hofft. Wir leben davon, dass Gott seinen Anspruch auf diese Welt nicht mit Gewalt durchsetzt, sondern mit Liebe. Wir leben davon, dass Gott sich hingegeben hat, an diese Welt, an uns, an der Logik der Welt vorbei, ohne Abwägung, ohne Bedingung. Wir leben davon, dass er uns ansteckt mit seiner Liebe für diese Welt, mit seiner Geduld und seiner Hoffnung. Amen.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)