Rogate (01. Mai 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrer Konrad Autenrieth, Kernen [Konrad.Autenrieth@elkw.de]

1. Timotheus 2, 1-6

„Vor allen Dingen das Gebet“ – Ist nicht die Realität oft die: Beten erst, wenn nichts mehr hilft?„So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung.“
Liebe Gemeinde, „vor allen Dingen“ das Gebet – das fällt auf. Kommt Beten für uns nicht oft gerade nach all den Dingen, die wir tun können, sozusagen als letztes Mittel nach dem Motto: „Jetzt hilft nur noch beten.“
„Vor allen Dingen das Gebet“. Vielleicht gibt es Stufen im Leben und Bewährungssituationen mit der Erfahrung von Ohnmacht, wo dieses „vor allem“ ganz automatisch da ist. Manches Kind wird auf dem Weg zur Schule, wenn die Klassenarbeit ansteht, ein Stoßgebet zum Himmel schicken: „Lieber Gott, hilf mir.“ Ebenso in späteren Jahren, wenn Kräfte weniger werden und der Tag mit seinen Aufgaben sich wie ein Berg vor uns auftürmt. Da ist es naheliegend, bevor alles losgeht, ein Bittgebet zu sprechen.

Aber ist es so gemeint? Der Apostel denkt wohl nicht an das Stoßgebet, wenn er sagt: „So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung.“ Das Gebet ist für ihn eher so etwas wie eine Haltung, so etwas wie die vornehme Pflicht eines Christen, aus dem Glauben etwas zum Gelingen des Lebens beizutragen.

Gott sei Dank können Menschen die Gewissheit finden: Mein Gebet wurde erhört.Doch kann das Gebet das? Ist das Gebet eine Möglichkeit, auf die himmlische Regie Einfluss zu nehmen?
Viele Menschen sind in der Tat davon fest überzeugt, erzählen von Gebetserhörungen. Erst kürzlich hat mir eine Bekannte berichtet, dass in ihrer Gemeinschaft für die krebskranke Mutter gebetet worden sei. Und der Tumor im Kopf sei nach wenigen Wochen nicht nur im Wachstum gestoppt worden, sondern hätte sich inzwischen sogar zurückgebildet.
Tatsächlich gibt es das immer wieder: Wendungen, die wir als Wunder erleben können, gerade in der Medizin. Selbst kritische Fachleute finden oft keine Erklärung dafür. Zum Glück gibt es so etwas, dass Menschen, fast schon abgeschrieben, wieder ins Leben zurückkehren dürfen.

Ich persönlich bin vorsichtig damit, zu sagen: Hier ist ein Gebet erhört worden. Kann das nicht dem wehtun, der dieses Wunder nicht erlebt? Wird er sich nicht fragen: War mein Gebet nicht gut genug? Oder sind es nicht die richtigen Menschen, die für mich beten?

Gebet, liebe Gemeinde, kann vieles sein – das macht der Apostel deutlich: Es ist Bitte, Fürbitte, Dank und Anbetung – je nach Bezugspunkt.
Und in unserem heutigen Predigttext finden wir sogar einen ganz konkreten Bezugspunkt des Gebets: Gebet für die Regierenden. „Ihr sollt beten für Könige und alle Obrigkeit, damit wir ein stilles und ruhiges Leben führen können.“

Beten für die Obrigkeit in der Demokratie heißt auch: Mitdenken, Mitverantworten, MithelfenDiese Wochen und Monate sind keine guten Wochen für Könige und Obrigkeit, für Präsidenten, für Innen- und Außenminister. Tiefes Misstrauen, ja Wut begegnen der politischen Obrigkeit. In den letzten Landtagswahlen wurden gleich drei Regierungen regelrecht abgestraft. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Mächtigen ohnmächtig sind – oder ihre Macht falsch einsetzen. Sie fragen sich: Wie sollen wir die vielen Fremden, die teils unkontrolliert in unser Land kommen, integrieren? Werden nicht die Armen und Benachteiligten hierzulande darüber das Nachsehen haben? Viele vermissen den Schutz, den man sich von der Obrigkeit seit jeher erhofft.

Doch andererseits: Lassen sich nicht viele gerne über unangenehme Wahrheiten hinwegtäuschen, solange die Obrigkeit das Gefühl von Sicherheit verbreitet, Wohltaten vollbringt. Wäre denn unser Bürgermeister wiedergewählt worden, wenn er mit der Botschaft in den Wahlkampf gezogen wäre: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, zur nachhaltigen Festigung unserer Gemeindefinanzen werde ich mich dafür stark machen, dass das Hallenbad geschlossen und die Förderung der Vereine für 10 Jahre eingestellt wird?“

„Ihr sollt beten für Könige und alle Obrigkeit, damit wir ein stilles und ruhiges Leben führen können.“ Seit den Zeiten des Apostels haben sich die Verhältnisse sehr geändert. Wir sind heute mit unserer Wählerstimme selber Souverän, selber König und Obrigkeit. Wir können Druck und Einfluss ausüben. Damals und noch lange Jahrhunderte danach wurde die Macht unter wenigen Adelsfamilien oder Stadtpatriziern ausgemacht. Dem Volk blieb kaum mehr etwas anderes übrig, als froh zu sein, wenn es von einem weisen König oder einem verantwortungsbewussten Stadtrat regiert wurde.

„Beten und Danken für die Obrigkeit“ – was der Apostel von einem Christen erwartet - das ist heute etwas völlig anderes: Es bedeutet Mitdenken, Mitverantworten und Mithelfen.

Doch, wie ist das möglich, wenn wir die Zusammenhänge der Zuständigkeiten, des Geldflusses, der Macht- und Interessenlagen gar nicht mehr richtig verstehen können? Dann sind wir fast wieder beim Gebet als letztem Mittel: Beten, wenn wir uns nicht mehr selber helfen können. „Wenn das nur mal gut geht.“ Wie oft hab ich das in den letzten Monaten gehört! Und was ist das anderes als ein Gebet?

Und doch, liebe Gemeinde, glaube ich – trotz aller offenen Fragen – hat das Gebet Sinn und Kraft: nicht als Ersatz fürs Tun. Nicht, als brauchte es unsere Gebete, um Gott zu informieren oder ihm Vorschläge zu machen: „Euer himmlischer Vater weiß“, sagt Jesus, „was ihr braucht, noch bevor ihr ihn bittet.“

Fürbitte tut dem Nächsten gutEs ist dennoch wertvoll und Kraft spendend, zu hören: „Ich bet für dich; ich schließ dich in mein Gebet ein.“ Da ist jemand, der für mich mitdenkt und das, was mich beschäftigt, vor Gott trägt.
Noch fast nie hat jemand es abgelehnt, wenn ich – bei einem Hausbesuch oder im Krankenhaus – angeboten habe, ein Gebet zu sprechen. Auf die Worte kommt ´s vielleicht gar nicht so sehr an. Kann man doch nie ganz genau erfassen und ins Gebet aufnehmen, was den anderen wirklich bewegt. Doch es scheint mir vor allem darauf anzukommen, dass gebetet wird. Alleine diese Möglichkeit, meine Bedürfnisse, meine Sehnsucht und Hoffnung, vielleicht meine Not, vor Gott, den Unsichtbaren, zu tragen – wie wertvoll ist das!

„Rufe mich an in der Not!“, rät das Psalmwort ganz praktisch. Dieses Wort wurde schon oft als Notnagel-Glaube madig gemacht: „Schaut, wenn´s eng wird, werden sie fromm.“ Aber gehört dieses Angewiesensein, diese Bedürftigkeit nicht zu unserer natürlichen Existenz dazu?
Wird nicht der Sünder – also der Teil an uns, der Gott nicht gefällt – gerade daran erkannt, dass er seine Grenzen nicht sehen will? Dass er den verachtet, der um Hilfe bitten muss; dass er nicht wahrhaben will, dass er zu so mancher Einsicht erst noch kommen muss? Ist es nicht der Gottlose, der glaubt, gar keinen Mittler und Fürsprecher zu brauchen?

Beten: Wahr sein lassen, dass ich ohne Hilfe nicht leben kann.Und unser Predigtwort spricht von Jesus als dem Mittler, der uns zu Gottes Herz führt. In seinem persönlichen Leben und Reden hat er gezeigt: Bei Gott gibt es nicht nur schwarz oder weiß, ganz oder gar nicht. Verlorene Söhne und Töchter dürfen wieder kommen. Er will uns Menschen mit den Grenzen, die wir nun mal haben: Grenzen unserer Leistungsfähigkeit, die wir spüren, wenn wir abends erledigt aufs Sofa sinken. Grenzen unser Gesundheit und Frische, wenn Beweglichkeit, Gedächtnis und Unternehmungsgeist nachlassen. Grenzen unseres Charakters: Wir sind nicht unbegrenzt großzügig, sind nicht so nervenstark oder auch nicht so einfühlsam, wie wir gerne wären.

So wie Jesus bewusst auf kranke und behinderte Menschen, auf Zöllner, ja sogar auf die verhassten Fremden aus Rom zugegangen ist, so geht Gott auf uns zu.
Nicht deshalb, weil Verkehrtes plötzlich richtig wäre. Nein, sondern weil er sich um uns sorgt, weil er uns als Bußfertige, Veränderungsbereite haben möchte.

Noch einmal zum Anfang: „Das Gebet ist ein Reden des Herzens mit Gott“, wie es Luther so schön gesagt hat. Kein Ersatz fürs Tun, auch keine Nachhilfe zu Gottes Tun. Es ist ein vertrauensvolles Reden mit Gott in Anbetracht meiner Grenzen.
Und genau in diesem Sinn, liebe Gemeinde, möchte ich auch am öffentlichen Gebet „für Könige und Obrigkeit“ im Gottesdienst festhalten.
Auch die, die nicht glauben wollen oder können, dürfen wissen: Alles Können und Vermögen, auch das staatliche und politische, hat seine Grenze. Es kommt nicht umhin, an Gottes Willen Maß zu nehmen und sich von ihm Kraft zu holen. Obrigkeiten, die das bewusst tun, finden seltsamerweise auch heute noch viel Zustimmung. Und in dem Bereich der Verantwortung, wo Sie und ich stehen, auch da ist es das Richtige, nach oben ausgerichtet zu sein. Amen.

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