Sexagesimae (04. Februar 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Angelika Segl-Johannsen, Bad Mergentheim [Angelika.Segl@elkw.de]

2. Korinther 12, 1-10

Die VollmondlegendeDie "Vollmondlegende" heißt ein Märchen von Michael Ende, das mich fasziniert. Gleichzeitig eine wunderbare Interpretation unseres paulinischen Briefabschnittes.

Eine Geschichte aus frühen Zeiten. Ein Einsiedler träumt von einem Feuerwirbel, aus dem eine Stimme zu ihm spricht: "Bleibe hier, denn hier will ich dir begegnen!"
So war er im Wald geblieben und hatte gewartet und meditiert und war darüber steinalt geworden. Aber Gott war ihm immer noch nicht begegnet. Er wartete.
Meist saß er im Eingang seiner Felsenhöhle, die Augen geschlossen und in tiefer Versenkung, in tiefem Frieden, ohne sich zu regen. Die Tiere des Waldes kamen und lebten in seinem Bannkreis wie im Paradies.

Nun war da auch ein Räuber und Mörder, vogelfrei, ausgestoßen von aller menschlichen Gemeinschaft. Ungleicher können Menschen nicht sein, und doch freundeten sich die beiden an. Der Räuber spürte den paradiesischen Frieden um die Höhle des Eremiten und empfand erstmals in seinem Leben so etwas wie Heimat. Der Alte beschloss, den Räuber zu seinem Schüler zu machen.
Viel verstand der Räuber nicht von den Unterweisungen.
Für ihn war das alles zu hoch und zu heilig.

Ein außergewöhnliches religiöses ErlebnisAber dann geschah etwas, das alles änderte. Es hing zusammen mit dem Traum jener ersten Nacht und dem Versprechen, das darin gegeben worden war. Der Eremit erzählte dem Räuber, er bekäme jede Vollmondnacht Besuch vom Erzengel Gabriel.
Und, so sagte er schaudernd: „Gabriel hat mir angekündigt, dass der Herr selbst mich bald aufsuchen will!“
In der Zeit dieser Besuche spürte der Räuber, dass der verehrte Lehrer ihm innerlich ferner rückte.

Zwar hatte er versprochen, bei Vollmond nicht vor der Höhle zu erscheinen. Aber dann fiel ihm auf: Es kamen keine Tiere mehr zu der Höhle. Und eines Tages schlug ein Habicht ganz nahe vor dem Höhleneingang, in dem der Einsiedler in tiefer Versenkung saß, ein Hasenjunges. Der paradiesische Friede war gebrochen.
Als die nächste Vollmondnacht herankam, stand der Entschluss des Räubers fest.
Er versteckte sich bei der Höhle und erlebte die überirdische blendend schöne Erscheinung des Erzengels in seinem Feuer-Wagen. Der Räuber, der die Ankunft des funkelnden Besuchers zunächst mit offenem Mund beobachtet hatte, schüttelte die Betäubung, die ihn erfassen wollte, von sich ab. Er war jetzt ganz sicher, dass da irgendetwas nicht stimmte. Langsam legte er einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens, zielte sorgfältig und schoss.
Der Pfeil zischte durch die Luft und fuhr der zarten, leuchtenden Gestalt quer durch die Kehle, wo er stecken blieb. Die Erscheinung schwankte und griff mit beiden Händen nach ihrem Hals. Der Wagen stob durch die Luft davon. Der Einsiedler war außer sich und tobte!

Lug und Trug"Sachte“! sagte der Räuber beschwichtigend, "kein Grund zur Aufregung, alter Freund. Das war nicht der Erzengel Gabriel. Lass uns mal nachsehen!"
Der Räuber konnte die Blutspur im hellen Mondschein ohne Mühe sehen und folgte ihr. Er musste nicht lange suchen.
Unter einem Weißdornbusch fand er einen toten Dachs, dem der Pfeil quer durch den Hals steckte. Sonst war da nichts, kein saphirener Wagen, keine Greife, keine Lilie.
"Siehst du?", sagte der Räuber und lachte gutmütig, "du hast mir selbst gesagt, dass es böse Geister gibt, die in die Leiber mancher Tiere fahren und allerhand Unsinn treiben. Das war einer."
Lange Zeit starrte der alte Eremit schweigend auf den toten Dachs. Endlich flüsterte er: "Aber du, wie konntest du das wissen, lieber Sohn, da sogar ich das Blendwerk nicht durchschaut habe?"
"Das war einfach", antwortete der Räuber, "du hast mir gesagt, dass Heiliges nur von Heiligen geschaut werden kann. Wenn also du, der du ein weiser Mensch bist und ein heiligmäßiges Leben führst, den Erzengel Gabriel zu sehen bekommst, dann ist das ganz in Ordnung.
Aber ich, der ich ein Sünder und ein Dummkopf bin, ich habe ihn genau gesehen wie du. Und da sagte ich mir, dass an der Sache was faul ist. Deshalb habe ich geschossen."

Eine echte GotteserfahrungDanach schwieg der Einsiedler wiederum lang. Er stand im Schatten, und der Räuber konnte sein Gesicht nicht sehen, doch hörte er nach einer Weile, dass sein Lehrer leise schluchzte.
"Was ist los?", fragte er besorgt.
Der Einsiedler flüsterte: "Ich schäme mich."
Der Räuber war verwundert. "Warum denn?"
"Ich habe mir eingebildet, deine Seele retten zu müssen", antwortete der Einsiedler, "und nun hast du stattdessen die meine gerettet. Das Versprechen aus dem Traum, den ich einst hatte, ist mir erfüllt worden, aber ganz anders, als ich es erwartet habe. Durch dich. Verstehst du das?"
"Nein", sagte der Räuber wahrheitsgemäß, "kein Wort."
"Das macht nichts", meinte der Einsiedler, wischte sich die Tränen ab und begann zu lächeln, "ich sehe jedenfalls, dass ich ganz von vorn beginnen muss. Ich möchte von dir lernen. Komm, gehen wir zurück."
„Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.“

Sich Rühmen ist NarrenwerkAuf religiöse Erfahrungen, auf spirituelle Visionen und Erlebnisse sollte man sich tunlichst nichts einbilden. Meint Paulus. Er war von seinen Widersachern in einen Wettstreit gezwungen worden, man warf ihm vor, sich nicht durch ekstatische Erfahrungen als Apostel ausweisen zu können. Aber er kann es, er kann sich auch rühmen, so wie die Anderen das tun, aber er weiß: Es bringt nichts! Er wäre ein Narr, würde er sich seiner Gotteserfahrungen rühmen. Vielleicht so ein Narr wie der Eremit im Märchen.

Auf du und du mit der anderen Welt?Visionen ohne Bodenhaftung können alles Mögliche sein! Wie viele Menschen haben mir schon erzählt, dass sie mit Engeln sprechen und Botschaften aus dem Jenseits channeln. Ich sage dazu lieber nichts, ich kann das nicht beurteilen, aber misstrauisch – das bin ich schon.
Meine Güte – wer hätte das nicht gerne – auf du und du mit der anderen Welt! Es gibt ja Ausbildungen, und man kann sich einweihen lassen und Grade absolvieren, bis man Geheimwissen erlangt. Das kitzelt unser Ego, das streichelt unseren Narzissmus, das plustert uns gewaltig auf.

Krankheit und Gnade?Paulus erachtet das alles für Dreck. Er hat die höchsten Offenbarungen erfahren, aber gleichzeitig war er krank und schwach und litt darunter. Und flehte zu Gott, seine Schwäche von ihm zu nehmen, ihn gesund zu machen. Und was bekam er? „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.“ Keine Änderung seiner unerträglichen Lage, keine Gesundheit, er musste weiter mit seiner Krankheit zurechtkommen. Aber etwas hatte sich doch verändert. Paulus begann, seine Erkrankung zu deuten. Sie ermögliche ihm Bodenhaftung, verwehre ihm das Abschwirren in unendliche spirituelle Weiten und Erfahrungen. Hier unten auf der Erde spielt nämlich die Musik, hier erweist sich Christus als der Lebendige. Hier ist er erfahrbar, in der eigenen Schwachheit, unter menschlichen Bedingungen.

Dorothee Sölle berichtet in ihrem Buch „Die Hinreise“: „Alles, worauf ich gebaut hatte, was ich gehofft, geglaubt und gewollt hatte, war vernichtet. Meine Ehe war zerbrochen. Ich habe über drei Jahre gebraucht, nicht um damit fertig zu werden, sondern nur, um die mich ständig begleitenden Wunschphantasien des Selbstmords zu überwinden. Sterben wollen war die einzige Hoffnung, der einzige Gedanke. In dieser Situation ging ich einmal auf einer Reise durch Belgien in eine dieser spätgotischen Kirchen zum Gebet. Der Ausdruck kommt mir falsch vor, ich war ein einziger Schrei. Ich schrie um Hilfe, und darunter konnte ich mir zweierlei vorstellen: dass mein Mann zu mir zurückkehrt oder dass ich stürbe und diese Dauerhinrichtung endlich aufhörte. In dieser Kirche fiel mir, in mein Schreien versunken, ein Wort aus der Bibel ein: ‚Lass dir an meiner Gnade genügen.‘ Ich hasste dieses Wort schon lange, es war für mich der Ausdruck einer durch nichts gemilderten Brutalität. Ich muss damals in der Mitte des Tunnels angekommen gewesen sein. Ich wusste wirklich nicht, was das theologische Wort Gnade bedeuten könnte, wenn alle Realität meines Lebens nichts damit zu tun hätte. Aber Gott hatte mir gerade diesen Satz gesagt. Ich kam aus der Kirche und betete von nun an nicht mehr darum, dass mein Mann zu mir zurückkäme. Ich fing an zu akzeptieren, dass mein Mann einen anderen, seinen eigenen Weg ging. Ich war am Ende und Gott hatte den ersten Entwurf zerrissen.“ Soweit Dorothee Sölle.

Das Ende des Rühmens„Lass dir an meiner Gnade genügen.“ Schwer für die, die sich als stark empfinden. Sie ahnen: den Weg mit Gott gehen bedeutet, alle Fäden aus der Hand geben, nicht mehr am Hebel sitzen und die Dinge nach dem eigenen Kopf lenken. Loslassen und vertrauen: Es wird gut sein für mich, was kommt, denn was ich an Fähigkeiten, an Begabungen, was ich an Gesundheit habe, das reicht. Vor Gott muss ich mich nicht in Szene setzen, keinen Internetauftritt präsentieren und keine Bewerbungsmappe mit exzellenten Zeugnissen abgeben. Aber „ja“ sagen zu meinem Leben, zu allem, was zu mir gehört im Vertrauen und in der Hoffnung: Gottes Kraft ist auch in meinen Schwachheiten mächtig. Das durchzubuchstabieren braucht es wohl ein ganzes Leben.
Amen.

Anmerkungen:
Der Predigttext wird als Schriftlesung vorgetragen. Vermutlich bleibt er meinen kranken Hörerinnen und Hörern in den Rehakliniken völlig unverständlich beim einmaligen Hören. Da sich das wohl auch nicht ändert, wenn der Predigttext in der Predigt nochmal vorgelesen wird, beschränke ich mich darauf, den Text in der obigen Form darzulegen.
Quellen:
Michael Ende, Die Vollmondlegende, Weitbrecht Verlag 1993 (hier stark gekürzt); Dorothee Sölle, Die Hinreise, Stuttgart 1986, 8. Auflage, S. 42f.

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