Sexagesimae (04. Februar 2024)

Autorin / Autor:
Dekanin Dr. Brigitte Müller, Brackenheim [Brigitte.Mueller@elkw.de]

Markus 4,26-29

IntentionEs soll deutlich werden, dass das Reich Gottes nach Ansicht des Markusevangelisten seiner Natur nach schon in der Welt ist, ohne in ihr aufzugehen. Zugleich soll im Kern festgehalten werden, wie das Reich Gottes mit der Person Christi zu verbinden ist.
Es kann und muss jedenfalls nicht durch die Anstrengung des Menschen gemacht werden. Im Gegenteil. Der Mensch neigt in Selbstüberschätzung dazu, das Werk Gottes eher zu verderben. Die Predigt versucht, diese einfache Erkenntnis an Beispielen aus dem Alltag nachvollziehbar zu machen.

Liebe Gemeinde,
der Großvater ist mit seiner vierjährigen Enkelin im Garten hinter dem Haus. Das Kind fragt: „Opa, wer hat die Bäume gemacht?“ Und er antwortet: „Der liebe Gott.“ Da fragte die Kleine – vermutlich ist ihr ein bisschen langweilig und sie will den Opa aus der Reserve locken – einzeln und der Reihe nach: „Opa, wer hat die Sonne gemacht?“ – „Und den Wind?“ – „Und die Blumen?“ – „Und die Bienen?“ Und jedes Mal antwortet der Großvater: „Der liebe Gott!“ Da verzieht sie enttäuscht das Gesicht und sagt: „Ach, immer der!“

„Ach, immer der!“„Ach, immer der!“ Wenn der liebe Gott alles gemacht hat und überall am Werk ist, welche Rolle spielt dann noch der Mensch? Welche Rolle spielen wir selbst? Was ist unsere Aufgabe in Gottes Welt?

Jesus erzählt ein Gleichnis:
„Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und aufsteht, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Denn von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.“
(Markus 4,26-29)

Und der Mensch?Was ist das für ein Mensch, von dem Jesus da erzählt?
Er bleibt namenlos. Ohne jedes Charakteristikum. Nicht einmal „Sämann“ wird er genannt oder „Bauer“. „Ein Mensch“, sagt Jesus. Neutraler geht es nicht, geradezu farblos. Und das, wo Jesus doch sonst viel farbiger erzählt.
Es kommt offensichtlich nicht auf diesen einen Menschen an.

Das ist ärgerlich. Denn wie sollen wir uns mit einer solch blassen Figur identifizieren oder uns an ihr abarbeiten? Wenigstens ein bisschen aufregen wollen wir uns über diesen Menschen: Geht der einfach nach Hause, schläft und steht auf, schläft und steht auf … Nacht und Tag … und kümmert sich nicht um den Acker. Und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Wo gibt’s denn sowas?

Idyll oder ChaosWas inzwischen auf dem Acker passiert? Nun, der Same geht auf, der Halm wächst und die Ähre und das Korn. – Jesus malt ein beschauliches Idyll.
Aber jeder Landwirt weiß, dass es nicht damit getan ist, tagsüber ein bisschen auf dem Traktor zu sitzen und abends auf der Bank vor der Scheune. Von allein verkommt der Acker. Von allein wachsen auf einem Bauernhof nur Chaos und Schulden.

Und Jesus weiß das auch. Er überzeichnet das Bild mit Absicht. Er überzeichnet es, damit der Hörer, die Hörerin nicht auf den Gedanken verfällt, der Mensch sei es, an dem das Gedeihen letztendlich hängt, wie in folgender bekannter Geschichte aus China:
„Ein Mann aus Sung war sehr betrübt, dass sein Korn nicht recht wachsen wollte. Er versuchte daher, die Halme selbst in die Höhe zu ziehen. Nach dieser Arbeit kam er ganz benommen heim und sagte zu seinen Leuten: ‚Ich bin sehr müde, ich habe meinem Korn geholfen zu wachsen.‘ Sein Sohn lief hinaus, um sich dies anzusehen, fand aber alle Halme verwelkt.“ (Mong Dse, 372-289 v. Chr.)

Man kann dem Korn nicht beim Wachsen helfen. Das ist klar. Man kann nur Steine absammeln, Unkraut heraushacken, bewässern … Das ist notwendig und gut.

Die doppelte Natur des Reiches GottesMehr kann der Mensch am Reich Gottes auch nicht tun … eher weniger, wenn Jesus Recht hat. Denn das Reich Gottes ist eine eigene Welt Gottes in unserer Welt. In ihr verborgen und doch mit ihr verbunden und verschränkt. Beide Welten liegen ineinander. In beiden aber ist Gott selbst am Werk. So schlicht unsere Erzählung auch daherkommt, so tiefgründig ist sie doch.

Sämann ChristusIn unserer Welt, in unserer Erfahrung, wächst die Saat „automatisch“, von selbst, wie es im Griechischen heißt. Aber ungefährdet wächst sie nie. Auch nicht die Saat des Reiches Gottes, die Botschaft der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit. Die wurde schon immer zertrampelt. Und das schon gleich nach der Aussaat, nämlich am Kreuz. Gründlich wie man vorging, hat man nicht nur die Saat, sondern mit ihr auch den Sämann – Jesus selbst – niedergetreten und aufgehängt. Aber seine Saat ist dennoch aufgegangen, „von selbst“; will heißen: trotz menschlichen Widerstands, durch Gottes Kraft.

Unsere RolleWas ist nun, wenn wir das Gleichnis deuten wollen, unsere Rolle in diesem Drama von Gottes Welt? Was ist unsere Aufgabe? – Ganz einfach: in der Spur Jesu den Acker bestellen. Jahr für Jahr. Schlafen und aufstehen, schlafen und aufstehen … zuversichtlich, dass die Saat aufgeht und wächst und Frucht bringt, weil sie durch Gottes Kraft wächst.

Zutrauen vermittelnEin Beispiel, das diesen Gedanken veranschaulichen soll, will ich nennen: Ich habe vor einigen Monaten nach mehr als fünfzig Jahren meine Grundschullehrerin der ersten Klasse wieder getroffen. Sie hat sich, glaube ich, kaum an mich erinnert.
Nur daran, dass mir ein Bub auf dem Schulhof die vorderen Schneidezähne eingerammt hat … ein kaputter Zahn ist das bleibende Andenken bis heute.

Ich aber erinnere mich jedoch sehr deutlich an die damals junge Pädagogin: an ihren Tweed Rock und den roten Rollkragenpullover, den sie immer trug, an die Morgenlieder im Klassenzimmer … Aber am liebsten erinnere ich mich an die Tischrunde mit den ersten Spätaussiedlerkindern aus Siebenbürgen, die damals kamen. Ich durfte mit ihnen Lesen üben, weil ich es schon konnte.
Das danke ich dieser Lehrerin und allen, die nach ihr kamen, am meisten: dass sie mir etwas zugetraut haben und nicht bezweifelten, dass ich es schaffen würde. Denn die, die ein Kind unterschätzen, bringen es nicht weiter. Am Zutrauen aber wachsen Kinder.

Es ist nicht notwendig, ständig an einem Kind herum zu erziehen. Denn das könnte ebenso kontraproduktiv sein, wie auf jenem chinesischen Acker, wo am Ende alle Halme verdorrten, weil der Bauer ihnen mit Gewalt beim Wachsen hatte helfen wollen.

Anstöße gebenEs kommt der Punkt, wo man das Geschehen sich selbst überlassen muss, um nichts zu verderben. Aber wichtig ist es, den Anstoß zu geben, das Geschehen in Gang zu setzen, mit den Worten des Gleichnisses: Samen aufs Land zu werfen. Das könnte unsere Rolle in der Welt Gottes sein. Unverdrossen die Botschaft der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit weiter zu tragen.

Wer erntet?Und die Ernte? Wer bringt die Ernte ein? Am Beispiel der Lehrerinnen und Lehrer ist es offensichtlich: Sie ernten normalerweise nicht, was sie gesät haben. Es gibt keine Prämie für erfolgreiche Schülerinnen und Schüler.
Gelegentlich hören sie freundliche und dankbare Worte, wenn sich die nicht mehr ganz jungen Leute nach Jahren auf ihre Bemühungen besinnen. Und manchmal werden sogar begeisterte Erinnerungen laut. Aber das sind in der Regel doch seltene Erlebnisse im Vergleich zu der großen Zahl an Schülerinnen und Schülern, die durch das Leben von Pädagogen gegangen sind.

Auch eine Lehrerin tut nichts anderes als der Mensch im Gleichnis: Schläft und steht wieder auf, schläft und steht wieder auf … und macht es richtig.
Falsch wird es, wenn die Alpträume überhandnehmen und der Burnout droht, die Überlastung gerade im Lehrberuf, weil man es einfach nicht allen Recht machen kann: Kindern und Eltern und der Schulleiterin und dem Schulamt – und den eigenen Ansprüchen. Ja, vor allem sich selbst!

Beim Wachsen helfen können, wie schön wäre das. Aber was für ein Anspruch, was für eine Überheblichkeit!

Unser Mensch im Gleichnis schläft gut. Jedenfalls ist nichts Anderes gesagt. Und Gottes Welt kommt trotzdem. Automatisch. Wir wissen nicht wie.
Und wer bringt nun die Ernte ein? Jesus sagt: „Wenn sie aber die Frucht gebracht hat – wörtlich: Wenn es die Frucht aber erlaubt – so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.“
Er schickt die Sichel, unser Mensch. Und die Sichel scheint ihr Werk von allein zu tun … Wenn die Frucht es erlaubt … Was für merkwürdige Formulierungen! Hätte der Evangelist nicht einfach schreiben können: „Wenn die Frucht da ist, so nimmt der Mensch die Sichel und geht hinaus und erntet.“
Natürlich hätte er so schreiben können, wenn er gewollt hätte. Hat er aber nicht. Denn mehr noch als bei der Aussaat, tritt der Mensch bei der Ernte in den Hintergrund. Er schickt die Sichel. Aber wer die Sichel führt, bleibt unausgesprochen.

Wer hat die Sichel in der Hand?Das hat seinen Grund. Denn die Sichel ist in der Bibel in einem tieferen Sinn das Werkzeug des Gerichts. Und das Gericht ist auch nach unserer Erzählung ganz offensichtlich nicht die Aufgabe des Menschen. Eher schon des „Menschensohns“. Aber von dem ist in diesem Gleichnis nicht die Rede.
So kann am Ende nur einer gemeint sein, der die Sichel führen wird: der, der den Weizen wachsen lässt, ohne dass der Mensch weiß wie. Gott, der alles gemacht hat. Schon wieder der. „Ach, immer der!“

Ach, immer der!Zum Glück. Zum Glück „immer der.“ Denn unter seinen Händen verdirbt nichts.
Wir können ihm vertrauen und schlafen, den Schlaf der Gerechten schlafen. Und aufstehen, aufstehen auch gegen Unbarmherzigkeit und Ungerechtigkeit, die Wachstumshindernisse des Reiches Gottes. Aber immer gewiss: Gottes Welt kommt auch ohne unseren Aufstand. Unwiderstehlich. Wir wissen nicht wie.
Und sie ist schon da. Sie keimt in der Spur, die Jesus auf Gottes Acker gezogen hat und immer weiter zieht: Nacht und Tag und Jahr für Jahr bis - ja, bis wann? Bis Gott ernten will.

Amen.

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