Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs / Volkstrauertag (18. November 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Susanne Joos, Stuttgart [Susanne.Joos@elkw.de]

Offenbarung 2, 8-11

Ich kenne deine BedrängnisSpät am Abend kommt Alexis nach Hause. Er schließt die Tür der Erdgeschosswohnung hinter sich zu. Wie immer fällt sein erster Blick auf den Schimmelfleck an der Wand gegenüber. Er seufzt. Dehnt den schmerzenden Rücken. Dann schaut er nach den Kindern. Das Mädchen schläft schon. Aber der Junge – er hat es befürchtet – er ist noch unterwegs. Ob es ist, weil die Mutter fehlt, ob etwas anderes ihn treibt – jedenfalls kann er den Sohn nicht halten. Er geht und kommt, wann er will. Es wäre gut, denkt Alexis, wenn er selbst abends zuhause wäre, aber das Geld reicht nicht, er braucht den zweiten Job in der Tankstelle, um die Familie über Wasser zu halten.
Müdigkeit sitzt ihm in den Knochen, am liebsten würde er nur noch schlafen. Wie lange wird das noch so bleiben?
Eine Erinnerung streift ihn. Heute früh auf dem Weg zum Supermarkt war er ein paar Minuten in der Kirche drüben, im dämmrigen Licht der Kerzen stand er vor einer Christus-Ikone. Er spürt noch den Blick aus den eng stehenden Augen auf seiner Haut.
Eine Weile hockt Alexis am Küchentisch, dann legt er sich schlafen.

Aische sitzt am Schreibtisch. Der Artikel über die Vertreibung der Familien für die Luxusresidenz des Staatspräsidenten ist fast fertig. Ihre Nerven sind bis zum Zerreißen gespannt.
Sie ist hin und hergerissen.
Wenn sie den Artikel abgibt, droht ihr Gefängnis. Wie zwei ihrer Kollegen, die bereits verhaftet wurden und jetzt auf ihren Prozess warten.
Wenn sie den Text zerreißt, wenn sie nur noch harmlose Reportagen schreibt: Wie soll sie morgen in den Spiegel schauen? Wie soll sie leben, wenn sie dem untreu wird, was ihr wichtig ist: den Rechtlosen, den Armen eine Stimme zu geben?
Aber kann sie denn die Haft riskieren, wo doch schon ihr Mann seine Arbeit als Richter verloren hat?
Soll sie aufgeben und sich anpassen,
soll sie durchhalten und Stellung beziehen?
Wie lange wird das alles noch weitergehen?

„Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut – du bist aber reich! Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden musst.“

Liebe Gemeinde,
was hilft durchzuhalten in Bedrängnis? In Enge, in Armut?
Was hilft zu leben, wenn das Heute unerträglich erscheint?

SmyrnaDie Offenbarung (oder Enthüllung) des Johannes ist ein Buch für all die, die unter dem Lauf der Geschichte leiden. Für alle, die herausfallen aus dem System. Wie die kleine christliche Gemeinde in Smyrna, dem heutigen Izmir.

Wir befinden uns um das Jahr 100 n.Chr. herum. Das Römische Reich strotzt vor Macht und Kraft, gebaut auf blutiger Gewalt. Die Kaiser lassen sich als Götter verehren. Sie verlangen Loyalität, die man sehen kann. Durch einen Kniefall vor einer Statue, durch eine Verbeugung bei öffentlichen Festen. Durch kleine Gesten im Alltag. Wer nicht mitmacht, fällt auf. Wer sich als Christ bekennt, muss mit Todesstrafe rechnen. Es ist eine Zeit, in der die Christen noch nicht an den Schalthebeln der Macht sitzen.

Wie zu allen Zeiten gehen die Bedrohten unterschiedlich mit der Gefahr um.
Manche bekennen sich offen zu ihrem Glauben und werden gefangen genommen. Sie riskieren ihr Leben.
Andere passen sich an und machen äußerlich mit: „Wegen eines verweigerten Kniefalls mein Leben riskieren, das muss ja nicht sein! Ich kann ja auch im Herzen Christ bleiben.“
Manche lavieren sich so durch, ohne klar Stellung zu beziehen.
Andere ziehen sich ganz zurück. Sie meiden das öffentliche Leben, leben in Armut und Isolation, sind Verleumdungen und Diskriminierungen ausgesetzt.
Vielleicht geben sich einige Christen sogar als jüdisch aus, um der Verfolgung zu entgegen. Zu jener Zeit wurde die jüdische Gemeinde vom Staat nicht bedrängt. Ob das der Hintergrund ist für die bösartige Bemerkung im Predigttext, über die Lästerung der angeblichen Juden und die Versammlung des Teufels? – Wir können es nur vermuten.

Welchen Weg die einzelnen Christen damals auch gewählt haben – Druck lastet auf ihnen allen.

Der Erste und der LetzteWenn in Smyrna damals am Abend im Gottesdienst aus der Bibel vorgelesen wird und aus den Schriften des Johannes, dann horchen die Leute auf. Dann verändert sich zuweilen das lähmende Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit wird spürbar.
Am Anfang war nicht Rom, am Ende wird nicht Rom sein. Die Leute hören von Gott, der war und kommen wird. Und von seinem Messias Jesus, der keine Macht hatte und doch eine Krone trägt. Der getötet wurde und der lebt.
Sie hören von dem Engel, der unter ihnen ist, von dem, der weiß, wie es um sie steht und was sie ertragen.
Oft spüren sie, wie sie dann Abstand gewinnen zu der sich so teuflisch gebärdenden Macht Roms. Es tut gut zu hören, wie Johannes die Weltmacht verspottet. Das hilft zur Distanz. Dann ist da auf einmal wieder Freiheit spürbar. Dann wächst der Mut, sich nicht zu unterwerfen, sich nicht unterkriegen zu lassen.
Durchzuhalten.
Denn es wird nicht ewig so weitergehen. Kein unentrinnbares Schicksal bestimmt das Leben der Gemeinde – das erleben sie im Gottesdienst. Ihr Dasein liegt in der Hand dessen, der die Krone des Lebens bereithält.

„Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist lebendig geworden: Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut – du bist aber reich. Fürchte dich nicht vor dem, was du leiden wirst!
Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“

VolkstrauertagLiebe Gemeinde,
heute am Volkstrauertag denken wir an all die, die leiden unter Krieg, unter Gewalt und Unrecht. An die Armen, die aufgerieben werden durch den Lauf der Geschichte.
Wir denken, 80 Jahre nach der Pogromnacht, an die Opfer des Nationalsozialismus und seine Nachwirkungen bis heute.
Wir denken auch an die Soldaten, die mit dem Bibelwort von der Treue bis zum Tod ins Feld gezogen sind. Welch ein Irrtum, wenn die Treue zum Gott des Lebens durch die Treue zu einer Nation oder einem Führer ersetzt wird!

Heute am Volktrauertag denken wir an die, deren Alltag ihnen alles abverlangt.

Und fragen zugleich uns selbst:
Was hilft uns durchzuhalten, wenn eine bedrängende Gegenwart das Leben zu verschlingen droht? Was hilft uns, Distanz zu bekommen, aus dem Gefühl der Ohnmacht herauszufinden, Freiheit zu leben – trotz widriger Umstände?
Welche Worte sind es, die helfen? Welche Bilder? Welche Musik? Welche Gemeinschaft ist es, die uns Kraft gibt?

Fürchte dich nichtAische legt die fast fertige Reportage in die Schublade. Heute hat sie nicht die Kraft, weiter zu schreiben. Heute ist die Angst übermächtig vor dem, was passieren könnte, würde sie ihren Text veröffentlichen.
Sie braucht jetzt wie so oft die Nähe ihres Mannes, der Freunde. Sie spürt – wie eine Welle – die Dankbarkeit für alle die, die mit ihr um die richtigen Entscheidungen ringen. Für alle, auf die sie sich verlassen kann.
Vielleicht wird sie dann Klarheit finden und Mut, um Stellung zu beziehen.

Am nächsten Morgen begegnet Alexis vor der Tür seinen Nachbarn. Auf einmal erinnert er sich: deren Sohn ist im gleichen Alter wie seiner. Die beiden Jugendlichen sind schon nachts miteinander herumgezogen.
Er entscheidet sich, die Nachbarn anzusprechen, zu fragen, ob sie wissen, wo sich die Jungs abends aufhalten. Ob sie ihn begleiten, um sie zu suchen. Alexis will nicht mehr alles nur aushalten und ertragen. Er spürt den deutlichen Impuls zu kämpfen, für seine Kinder, für sich. Gegen den lähmenden Fatalismus, gegen die Ohnmacht.
Für sein Leben und ihr Leben.

„Ich kenne deine Bedrängnis und deine Armut, du bist aber reich! Fürchte dich nicht!“

Wer Ohren hat„Wer Ohren hat, der höre.“
Liebe Gemeinde, es braucht die geistigen Ohren, um die Stimme des Engels zu hören, inmitten der Kämpfe des Lebens.

Amen.


Anmerkung
Bei der Vorbereitung ließ ich mich leiten vom Kommentar von Klaus Wengst: „Wie lange noch?“ Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010.

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