Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs / Volkstrauertag (13. November 2016)

Autorin / Autor:
Dekan Beatus Widmann, Balingen [Beatus.Widmann@elkw.de ]

Römer 8, 18-25

Liebe Gemeinde!

Heute am Volkstrauertag dürfen wir wissen:
Es gibt Hoffnung für die seufzende Welt und es gibt Hoffnung für uns wartende Christen.

Dass wir Christen mit allen anderen Menschen schicksalshaft verbunden sind, sollte klar sein. Aber die in unserem Text gemeinte Verbundenheit mit der Welt betrifft nicht nur die Menschen um uns her, sondern alle Kreaturen Gottes.

Wir leben mit der „Natur“ in einer Schicksalsgemeinschaft.

Wir erkennen diese Natur nicht nur in den Naturwissenschaften und beherrschen sie nicht nur in Technik und Wirtschaft, sondern wir gehören zur Natur. Wir sind mit ihr vertraut und verbunden, wir leben und atmen in ihr, wir fühlen mit ihr, wir denken und sorgen für sie und gehören auch darin zu ihr, dass wir zuletzt wieder zu Erde werden: Erde zur Erde, Asche zur Asche, Staub zum Staube.

Franz von Assisi hat Sonne und Mond, Wasser und Feuer seine Geschwister genannt, und er hat den Vögeln gepredigt. Wenn wir das auch nicht nachmachen, so sollten wir es doch nachempfinden, was er damit gemeint hat. Mit Worten der Bibel gesprochen:
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk“ (Psalm19,2).
„Ihr Berge, frohlocket mit Jauchzen, der Wald und alle Bäume darin“ (Jesaja 44,23).
„Das Meer brause… Die Ströme sollen frohlocken“ (Psalm 98,7 und 8).

In unserem Text, Römer 8, hört Paulus die Schöpfung Gottes seufzen und stöhnen. Sie wartet gespannt,

dass mit den Menschen eine umfassende Veränderung vor sich geht,

nämlich, dass aufgedeckt wird, was Gott heimlich schon aus ihnen gemacht hat. Die außermenschliche Schöpfung wartet darauf, dass wir öffentlich und unübersehbar als Kinder Gottes in Erscheinung treten. Die Kreatur wartet darauf. Sie sehnt sich und seufzt. Denn in dem, was aus uns wird, entscheidet sich auch ihr Geschick.

Ich kenne Menschen, liebe Gemeinde, wenn man sie fragt, warum ihre Pflanzen so gut gedeihen, antworten sie: „Ja wissen Sie, ich spreche mit meinen Pflanzen.“ Da gibt es offensichtlich feine, aber unerklärliche Zusammenhänge zwischen Mensch und Natur. Und da gibt es die groben und herben Zusammenhänge. Wir sehen heute einiges deutlicher, als Paulus es sehen konnte. Der Mensch ist das Schicksal der Welt. Längst isst er nicht mehr nur von den Früchten des Gartens und der Felder. Längst lebt er jenseits von Eden. Er hat sich die Erde untertan gemacht, und zwar gründlich. Alles muss ihm dienen. Aus dem Landwirt und Gärtner, dem Heger und Pfleger ist heute vielfach der rücksichtslose Technokrat und der gewissenlose Ausbeuter der Natur geworden. Die Schöpfung Gottes seufzt und stöhnt. Und so seufzt und stöhnt auch das Meer unter dem auslaufenden Öl aus dem gestrandeten und leckgeschlagenen Tanker und die betroffenen Fische und Vögel und Kleinlebewesen seufzen und stöhnen.
Hören wir es? Empfinden wir es mit? Paulus hat das ängstliche Harren der Kreatur vernommen.

Aber er erkennt auch Zeichen der Hoffnung.

Die stumme Kreatur ist ja nicht nur schicksalshaft in das Sündenverderben der Menschen hineingezogen, sondern auch an der Hoffnung beteiligt, unter der die Menschheit lebt. Ohne das Zutun der Kreatur kam die große Frustration, der Leerlauf, das Sterben-Müssen über sie.

Gott hat sie in die Hilflosigkeit der Sünder mithinein gezogen.

Wir wissen nicht, warum. Aber dies geschah „Auf Hoffnung“. Denn Gott findet sich nicht mit den Leiden der Welt ab. Wird er die Menschen retten, dann auch die Kreatur. Werden die Menschen von den Folgen ihrer Sünden frei, so wird auch die Schöpfung frei.
Es wird eine neue, verwandelte Welt entstehen. Es macht nicht viel aus, wie wir uns das vorstellen: ob wir daran denken, dass Himmel und Erde vergehen und ein neuer Himmel und eine neue Erde sein werden, oder ob wir das himmlische Jerusalem auf die Erde herabfahren sehen, sodass die alte Welt verwandelt wird und nicht wieder zu erkennen ist. Dies beides kommt endlich auf eines heraus.

Diese Neuschöpfung hat mit Ostern begonnen, und Gott wird sie vollenden.

Und nun zum anderen Teil der Predigt: Es gibt Hoffnung für die wartenden Christen. Friedrich Nietzsche hat einmal gesagt: Die Christen müssten erlöster aussehen.
Zugegeben, es wäre wünschenswert, wenn man uns unsere Zugehörigkeit zu Christus ansehen würde.
Dennoch: Auf Hoffnung sind wir gerettet (Vers 24).
„Es ist noch nicht sichtbar geworden, was wir sein werden“ (1. Johannes 3,2). Die Schwärmer in Korinth haben dem Apostel Paulus vorgerechnet, dass an ihm so viel Schwaches sei, so viel Armes, Enttäuschendes, Krankes, Schandbares. Und er hat ihnen nicht widersprochen, sondern darauf hingewiesen, dass das alles zur Kreuzgestalt des Christen gehört.
Der Herr Jesus Christus selber war ja, was er war, in Unkenntlichkeit und Verhüllung. Fleisch und Blut konnte da nichts Besonderes wahrnehmen. Was wir als Christen vorweisen könnten, das würde uns von anderen Menschen grundsätzlich nicht unterscheiden, und dass es „sodde und sodde“ (schwäbisch gesprochen) gibt, das gilt innerhalb wie außerhalb der christlichen Gemeinde. Man sieht uns nicht an, dass wir Gottes Kinder sind.

„Unser Leben ist mit Christus verborgen in Gott.“

Man könnte sagen: Die anderen sehen es uns nicht an, aber wir wissen, wer wir sind und was wir haben. Ja, wir werden dessen gewiss gemacht.
„Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind“ (Vers 16).
Und wir können auch ganz gewiss sein, dass nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Wir sind gerecht gemacht. Keiner darf uns beschuldigen, keiner verdammen. Gott steht zu uns, ohne Wenn und Aber. Aber wohlgemerkt, liebe Gemeinde: Das lesen wir nicht an uns ab, sondern an Christus, in seinem Wort und in seinen Sakramenten.
Fragen wir, wie es um uns steht, so müssen wir feststellen: „Auch wir seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.“

Wir sehnen uns!

„Eine Fabel erzählt das Gespräch zwischen einer Libellenlarve, die immer wieder den unwiderstehlichen Drang nach oben hat, um neue Luft zu schöpfen, und einem Blutegel, der sagt: ‚Hab‘ ich vielleicht jemals das Bedürfnis nach dem, was du Himmelsluft nennst?‘
‚Ach‘, erwiderte die Libellenlarve, ‚ich habe nun einmal die Sehnsucht nach oben. Ich versuchte auch schon einmal, an der Wasseroberfläche nach dem zu schauen, was darüber ist. Da sah ich einen hellen Schein, und merkwürdige Schattengestalten huschten über mich hinweg. Aber meine Augen müssen wohl nicht geeignet sein für das, was über dem Teich ist. Aber wissen möcht ich’s doch!‘ Der Blutegel krümmte sich vor Lachen:
‚O du phantasievolle Seele, du meinst, über dem Tümpel gibt es noch was? Lass doch diese Illusionen. Glaub‘ mir als einem erfahrenen Mann: Ich habe den ganzen Tümpel durchschwommen. Dieser Tümpel ist die Welt – und die Welt ist ein Tümpel. Und außerhalb dessen ist nichts!‘ ‚Aber ich habe doch den Lichtschein gesehen und Schatten !?‘
‚Hirngespinste! Was ich fühlen und betasten kann, das ist das Wirkliche‘, erwiderte der Blutegel.
Aber es dauerte nicht lange, bis sich die Libellenlarve aus dem Wasser herausschob, Flügel wuchsen ihr, goldenes Sonnenlicht und blauer Himmelsschein umspülten sie, und sie schwebte schimmernd über den niedrigen Tümpel davon.“
(Willi Hoffsümmer, Kurzgeschichten 1, Nr.55)

Liebe Gemeinde!
Wir seufzen, wir sehnen uns. Das ist das Beste, was man von einem Christen sagen kann. Es spricht gar nicht gegen unser Kindesrecht bei Gott, wenn wir einbrechen, wenn uns die Kräfte ausgehen, wenn uns der Mut fehlt, wenn es mit dem Beten nicht mehr gehen will, und wenn wir in Angst geraten.

Gott hat uns mehr, als wir ihn haben.

Wir leben noch in der Niedrigkeit des Kreuzes.
Wir sind auf Hoffnung gerettet. Das heißt jedoch nicht, dass wir bisher leer ausgegangen wären. Wir haben den Geist als Erstlingsgabe, den Anbruch des kommenden Lebens.

Und wir warten auf die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.
„Freiheit“ – dann werden wir sein, wozu wir bestimmt sind.
„Kinder Gottes“ – dann werden alle Hemmnisse und Hindernisse zwischen Gott und uns abgefallen sein.

„Herrlich“ – dann scheint auf uns die Herrlichkeit Gottes.
„Denn dein ist das Reich, und die Kraft und Herrlichkeit…“
Wir freuen uns auf die neue Welt, in der auch die Kreatur nicht mehr seufzen muss. Beschreiben können wir sie nicht. Aber sie wird so sein, dass alle Leiden dieser Zeit dagegen nicht ins Gewicht fallen.
Amen.


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