Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs / Volkstrauertag (19. November 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrer PD Dr. Peter Haigis, Springe [peter.haigis@kloster-wuelfinghausen.de]

Lukas 16, 1-8

Liebe Gemeinde,

Jesus hat in seinen öffentlichen Predigten und Reden immer wieder Bilder, Vergleiche, Gleichniserzählungen benutzt, um seinen Zuhörern verständlich zu machen, worum es ihm ging. Ob er damit auch immer besser verstanden worden ist, steht auf einem anderen Blatt. Zumindest gibt es Überlieferungen im Neuen Testament, die uns zeigen, dass Jesu Zuhörer zusätzlich nach einer Erklärung dessen verlangten, was sie da soeben in Bildern vorgeführt bekamen.
Andererseits hatten Jesu Gleichnisse bisweilen keineswegs den Sinn, das, was er sagen wollte, auf eine besonders gefällige Weise nahezubringen. Jesu Gleichnisse haben auch heftig provoziert. Vielleicht mehr als wenn er es im „Klartext“ gesagt hätte. Die Bilder und Vergleiche haben manches noch einmal auf die Spitze getrieben und schärfer ausgedrückt. Mit einem solchen Gleichnis haben wir es heute zu tun.

Meine Predigt heute soll eine Nacherzählung dieser Geschichte sein. Ich werde sie verfremden, aktualisieren, interpretieren. Ich möchte Ihnen so die einzelnen Szenen der Reihe nach vor Augen führen, um die Spannung und die überraschenden Elemente, die in dieser Erzählung Jesu liegen, noch stärker zu betonen.

Um uns den Inhalt des Gleichnisses, um das es hier geht, etwas besser ausmalen zu können, benötigen wir einen kleinen Rahmen – eine Art Rahmenerzählung. Ich möchte Sie daher bitten, sich einmal – ganz probeweise – folgende Situation vorzustellen:
Wir befinden uns in Jerusalem, einer lauten und geschäftigen Stadt. Durch die engen Gassen knattern Motorräder, die Straßencafés sind überfüllt, in Haus- und Hofeingängen und ebenso an vielen Ecken sind kleine Verkaufsstände aufgebaut, an denen allerlei Second-Hand-Artikel, Bücher, Modeschmuck, Handwerkskunst und vieles mehr feilgeboten werden.
Auf einem Platz unweit vom Tempelberg ist eine kleine Bühne errichtet. Menschen drängen sich davor. Oben über der Lichtanlage ist ein Transparent angebracht, auf dem in bunten Lettern geschrieben steht:

16. STRASSENTHEATER-FESTIVAL IN JERUSALEM

Noch sind die Vorhänge, die den Bühnenraum umgrenzen, zugezogen. Man hat keinen Einblick in das, was einen erwartet. Nur einige Plakate und Handzettel kündigen die nächste Aufführung an: Ein „Schalks-Stück“ soll gespielt werden. Es trägt den Titel: „Der ‘ungerechte’ Hausverwalter“, wobei das Wort „ungerecht“ in Anführungsstriche gesetzt ist. Man kann auch die Namen der Darsteller und den des Regisseurs den Handzetteln entnehmen. Regie führte ein gewisser Jeschua ben Jussuf aus Nazareth. Seit einigen Jahren zieht er durch die Gegend und hat mit seiner Schauspieltruppe bei manchem Auftritt großes Aufsehen erregt. Was wird er also heute bieten?

Nach langer, nur mit Ungeduld zu ertragender Wartezeit öffnet sich endlich der Vorhang: Das erste Szenenbild zeigt einen Büroraum. Einfach gestaltet. Im Vordergrund ein alter Schreibtisch mit einer altertümlichen Schreibmaschine, daneben eine Registrierkasse. An der Wand dahinter befindet sich ein schäbiger Aktenschrank, vollgestopft mit Ordnern, Papieren, Karteien und anderem. Die Regalbretter biegen sich unter der Last des Papierwusts. Am Schreibtisch sitzt ein Mann Anfang Dreißig. Drei-Tage-Bart. Sein Anzug hat auch schon bessere Tage gesehen. Er hackt etwas umständlich auf der Schreibmaschine herum. Dann tritt ein uniformierter Jüngling auf – ein Page oder so etwas ähnliches. Er teilt dem Verwaltungsangestellten mit, er müsse unverzüglich mitkommen. Der Chef erwarte ihn.

Das war’s schon. Fürs erste jedenfalls. Der Vorhang fällt. Volksgemurmel unter den Zuschauern. Nach kurzer Umbaupause geht es weiter: Die Bühne zeigt nun ein sehr edel ausgestattetes Büro. Ganz das Gegenteil zum vorherigen Bild. Mahagoni-Wände im Hintergrund. Ein mächtiger Schreibtisch davor. In einem Ledersessel thront ein gut gekleideter, etwas dicklicher Mann mit Zigarre im Mund. Über ihm ein gemaltes Porträt, das wohl den Unternehmensgründer darstellt – seinen Großvater. Der Verwalter aus der ersten Szene tritt auf und nimmt zögernd auf einem unbequemen, schnell bereitgestellten Stuhl gegenüber dem Schreibtisch Platz.

„Was muss ich hören!?“ – schnauzt ihn der Zigarre qualmende Dicke an. „Mir ist aus zuverlässiger Quelle zugetragen worden, dass du mein Firmenvermögen mit vollen Händen zum Fenster hinauswirfst. Ich fordere Rechenschaft von dir. Auf Heller und Pfennig! Leg’ die Bilanzen und Bücher vor. Du bist die längste Zeit mein Verwalter gewesen. Am Ende hast du auch noch Gelder veruntreut.“
Der offensichtlich schwer eingeschüchterte Angestellte möchte gerne etwas einwenden, aber er kommt erst gar nicht zu Wort und wird kurzerhand aus dem Chefzimmer geworfen. Vorhang.

Die Menge feixt. Na also, das wird doch ein Spaß! Wenn’s diesem ungeschickten Tropf von Verwalter gleich an den Kragen geht. Er ist doch selbst schuld an der Misere. Was führt er auch für einen Saustall in seinem Kontor!

Der Vorhang geht wieder auf: Wirklich ein Saustall, dieses Büro! Jetzt nimmt man die Schlampigkeit und Unzuverlässigkeit dieses Verwalters noch mehr wahr. Mal sehen, wie er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen will. Er ist offenbar ziemlich verzweifelt und spricht ins Publikum, um sich zu rechtfertigen. Er habe sich eigentlich nichts zu Schulden kommen lassen und ein reines Gewissen. Gut, gut, er war vielleicht nicht immer ganz geschickt in seinem Job. Er hat einigen Geschäftspartnern seines Chefs Kredite vergeben, ohne ihre Kreditwürdigkeit zu prüfen. Er hat die letzten Mahnfristen noch ausstehender Rechnungen verbummelt. Aber was soll’s? Das sind doch Peanuts im Vergleich zu dem, worüber sein Boss verfügt. Doch Erklärungen helfen nicht weiter. Die Kollegen sitzen ihm im Nacken. Die haben ihn angeschwärzt, sind scharf auf seinen Posten. Und der Chef hat ihn gefeuert, ohne ihn anzuhören. Was also tun?

„Zur Arbeit auf dem Bau oder an der Maschine tauge ich nicht“ – sagt er sich. „Ich bin zu ungeschickt mit meinen beiden linken Händen. Und betteln mag ich nicht. Das ist mir peinlich, in der Fußgängerzone zu sitzen.“ Grübelnd schaut er ins Publikum, sein Gesicht verzerrt sich immer mehr zu einer angestrengten Grimasse. Dann hellen sich seine Gesichtszüge plötzlich auf. Er scheint eine rettende Idee zu haben. Doch da fällt erneut der Vorhang.

Das Publikum ist aufgeregt. Was wird der Verwalter nun unternehmen in seiner verzweifelten Lage? Gibt es einen Ausweg? Die Sympathien scheinen sich verschoben zu haben. Man hält den kleinen ungeschickten Verwalter auf einmal gar nicht mehr so sehr für einen trotteligen Versager, auf dessen Abstrafung man sich schon so richtig gefreut hatte.

Diesmal dauert die Pause länger. Es gibt sogar belegte Brötchen und Getränke zu kaufen. Dann endlich das erlösende Gongsignal. Es geht weiter. Nur wie?

Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick auf den Büroraum des Verwalters frei. Nichts hat sich geändert. Dieselben vollgestopften Regale, dieselben Akten, dieselbe Schreibmaschine – dasselbe Chaos. Doch der Verwalter hat Besuch. Vor ihm steht ein gut gekleideter Mann. Nicht ganz so gut gekleidet wie sein Chef. Er hat eine Zigarre in der Hand. Nicht ganz so dick wie die seines Chefs. Er ist schwarz, ein Afrikaner vielleicht.
„Was schuldest du meinem Boss?“ – fragt ihn der Verwalter.
„Dreihundertfünfundsiebzigtausend Dollar.“
Der Verwalter setzt einen Bogen Papier auf: „Okay! Machen wir Dreihundertfünfzehntausend daraus.“
„Wie bitte?“ – entgegnet der Handelsvertreter. Er kann es nicht fassen.
„Die Schuldzinsen, die mein Boss verlangt, sind ohnehin vollkommener Wucher, völlig überhöht. Dreihundertfünfzehntausend – das reicht!“
Nachdem die geschäftlichen Angelegenheiten erledigt sind, verlässt der schwarze Handelsvertreter das Büro. Der nächste tritt ein. Und wieder spielt sich dieselbe Szene ab. Als auch der geht, kommt ein dritter, ein vierter und so weiter. Vor dem Büro steht eine ganze Schlange. Vorhang.

Das Publikum ist aufgebracht. Also doch ein Betrüger! Nun sieht man es ja, dass er nicht nur schlecht wirtschaftet, sondern dass er seinen Chef regelrecht hintergeht. Der soll seine saftige Strafe erhalten.

Doch es dauert. Irgendwie geht es nicht weiter. „Vorhang auf!“ – schreit einer der Zuschauer. Der Vorhang bleibt unten. „Was soll das?“ „Wo bleibt die Moral von der Geschichte?“ „Wir wollen den Schuft im Knast sehen, im Hungerturm, am Galgen…“
In diesem Augenblick tritt Jeschua ben Jussuf auf die Bühne:
„Es wird keine Strafe geben. Der Verwalter hat nichts Unrechtes getan. Was ist Recht und was ist Unrecht? Soll etwa der über Recht und Gerechtigkeit befinden, der auch über Besitz und Eigentum verfügt? Ist denn Recht eine Sache des Geldes?
Der Verwalter, den ihr gesehen habt – wer sagt euch, dass er ein betrügerischer Mensch ist? Euer Vorurteil? Er ist beschuldigt worden – okay, aber von wem? Und zu Recht? Wer sagt euch denn, dass er seinen Chef tatsächlich übers Ohr gehauen hat? Hat er nicht vielmehr denen geholfen, die sich in einer ähnlichen Zwangslage befanden wie er?
Er hat ihnen einen Teil ihrer Schuld erlassen, um sie aus dem Schuldensog nach unten zu befreien. Der Verwalter hat erkannt, dass er auf der falschen Seite steht. Dass er an der Schraube der Ungerechtigkeit kräftig mit gedreht hat. Mir imponiert dieser Mann. Er wird selbst zum Opfer und solidarisiert sich mit den Verlierern. Er hat Klugheit bewiesen, weil er erkannt hat, dass es auf der Straße der Niederlage Siege gibt, wenn man versteht, sich mit anderen, denen Unrecht angetan wird, zu solidarisieren, statt über einander herzufallen. Er ist ausgestiegen aus dem Becken der Haie.
Ich sage euch: Lacht nicht über die Verlierer, sondern stellt euch an ihre Seite! Wir können alle sehr schnell zu den so genannten Loosern gehören, wenn sich das Blatt wendet. Wer von euch hat sein Schicksal in der Hand? Und dann, ja dann haben wir Solidarität bitter nötig, denn in der Not hilft nur das Miteinander zum Überleben.“
Mit diesen Worten verließ Jeschua ben Jussuf die Bühne.

Einige Zuschauer klatschen verhalten Beifall, andere maulten leise vor sich hin, wieder andere verließen betreten das Gelände. Dann wurde es still – und alle schwiegen.
Amen.


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