1. Weihnachtsfeiertag (25. Dezember 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dorothee Beer, Altenburg [Dorothee.Beer@elkw.de]

1. Johannes 3,1-2

IntentionDie Predigt zeichnet die Botschaft von der Gotteskindschaft nach. Sie will ins Bewusstsein rücken, wie und in welchen Zusammenhängen die Verheißung positive Veränderungen bewirken kann. Die Predigt benennt die Spannungsfelder vom Schon-Jetzt und Noch-Nicht und zeigt Perspektiven für gelingendes Leben als Kinder Gottes auf.

Wes Geistes Kind?Ein Kind wird geboren. Schon vom ersten Tag an fragen wir: „Wem es wohl gleicht? Mehr dem Vater oder der mehr der Mutter?“ Es wächst heran und nach und nach prägt es seine eigene Persönlichkeit aus. Und wir fragen: „Von wem es das wohl hat? Von der Mutter, oder doch vom Vater?“ Sicher kennen Sie diese Fragen und Gedankenspiele aus der eigenen Familie oder aus dem Bekanntenkreis. Wir Menschen wollen einordnen, sortieren. In Bezug auf die Gaben und Begabungen, aber auch in Bezug auf die Überzeugungen. So fragen wir „wes Geistes Kind“ jemand ist. Der Schreiber des 1. Johannesbriefs bestimmt die Herkunft seiner Leser als Gottes Kinder.
Der Autor weiß: wessen Kind jemand ist, wie jemand geprägt ist, das zeigt sich noch nicht beim Neugeborenen, sondern erst später. Das ist nicht gleich offenbar, und es ist noch nicht sichtbar. So bewegt sich der Predigttext in der Spannung zwischen dem, was ist, und dem was sich noch zeigen wird. Ich lese aus dem 1. Johannesbrief, Kapitel 3, Verse 1 und 2 nach der Basisbibel:

„Seht doch, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es tatsächlich. Doch diese Welt weiß nicht, wer wir sind. Denn sie hat Gott nicht erkannt. Ihr Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir einmal sein werden, ist noch gar nicht sichtbar. Wir wissen jedoch: Wenn es offenbar wird, werden wir Gott ähnlich sein. Denn dann werden wir ihn sehen, wie er ist.“

„Schon jetzt, dann erst recht“ – mit dieser Widerspruchs-Formel hat der in diesem Jahr verstorbene evangelische Theologe Eberhard Jüngel einst die Spannung in der Eschatologie, in der Vorstellung von der Ewigkeit auf den Punkt gebracht. Gemeint ist, dass der Glaube an das ewige Leben zum einen schon jetzt unser Leben verändert. Und zum anderen, dass es dann, nach dem Tod, zur Vollendung kommt.
Diese Spannung scheint in unserem Textausschnitt aus dem 1. Johannesbrief auf: Die Liebe Gottes gilt allen Menschen, denn sie sind bereits Gottes Kinder. Dieses Bild male ich mir vor Augen: Gottes Kind zu sein, das heißt, ohne Voraussetzungen angenommen und geliebt zu sein. Wertvoll, lieb und teuer. Das sprechen wir bei der Taufe kleinen Kindern zu. „Gott spricht: Fürchte dich nicht, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“
Und nun: dass wir Gottes Kinder sind, wird sich noch genauer zeigen. Wir werden Gott ähnlich sein. Wir werden ihn sehen, wie er ist. „Jetzt erkenne ich stückweise, dann werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin“ (1. Korinther 13,12).

Diese Spannung durchzieht mein Leben als Christin. Ich erahne Gottes Reich, aber ich lebe noch nicht darin. Ich spüre Gottes Liebe, aber ich sehe sie noch nicht. Ich strebe nach guten Werken, aber ich mache immer noch Fehler. Ich bin Gottes Kind, aber es ist noch nicht (immer) sichtbar.
„Schon jetzt, dann erst recht.“ Dieser Satz betont nicht das Defizit, sondern das, was jetzt schon da ist. Schon jetzt: Gottes geliebtes Kind. Schon jetzt kann ich mir das sagen, wenn ich vor den eigenen Erwartungen und denen der anderen stehe: Ich bin Gottes geliebtes Kind. Wenn ich einen Berg von Arbeit vor mir sehe: Ich bin Gottes geliebtes Kind. Wenn ich meine, als Vater und Mutter nicht perfekt genug zu sein: Gottes geliebtes Kind. Wenn ich im Miteinander nicht so geduldig bin, wie ich es von mir erwarte: Gottes geliebtes Kind. Diese Kette lässt sich endlos weiter fortsetzen. Und ich frage mich: Was würde passieren, wenn ich mir den lieben langen Tag, jeden lieben langen Tag diesen Satz selbst sagen würde? Ich stelle mir vor, dass Gnade und Barmherzigkeit einziehen würden. Ein Band der Liebe könnte ich knüpfen von mir zu anderen. Weil Gott es zu mir geknüpft hat: Gottes geliebtes Kind. Du bist wertvoll. Einfach so. Allein deshalb, weil Du ein Geschöpf Gottes bist.

Die Gottesliebe nennt der Autor im Griechischen Agape. Sie meint die Gottesliebe, die Selbstliebe und die Nächstenliebe. Nicht eros und nicht philia, die freundschaftliche Liebe. Die Agape spannt ein Netz des Zusammenhalts. Gottesliebe, Selbstliebe, Nächstenliebe. Ich bin Gottes geliebtes Kind. Du bist Gottes geliebtes Kind. – Und das in allen Bezügen unseres Lebens. Der Jugendliche, der seinen Weg sucht: Gottes geliebtes Kind. Die Frau mittleren Alters, die um ihre Mutter trauert: Gottes geliebtes Kind. Das Kind, das so vieles erst noch lernen muss: Gottes geliebtes Kind.
Schon jetzt, dann erst recht. Im Leben der Liebe entsteht mehr Liebe. Gottes Liebe entwickelt sich, nimmt Form an und wird erst dann wirklich sichtbar. Und wenn ich mich zu Gottes Ebenbild entwickelt habe, dann kann ich ihn sehen. Dann sind wir auf Augenhöhe.
Schon jetzt, dann erst recht: Diese Formel sagt es positiv, was wir oft negativ formulieren: schon und noch nicht. So wird ein Defizit formuliert, ein Mangel. Dagegen – Schon jetzt, dann erst recht: Da wird der Blick weiter. Er reicht bis ins Jenseits. Da öffnet sich eine Perspektive. Schon in diesem Leben spüre ich, dass ich Gottes geliebtes Kind bin. Ich profitiere davon nicht erst für ein Leben nach dem Tod, sondern schon jetzt, mittendrin. Schon jetzt bin ich angenommen, wie ich bin. Schon jetzt muss ich mich nicht selbst mit Vorwürfen quälen, wenn ich einen Fehler mache.

„Seht doch, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es tatsächlich. Doch diese Welt weiß nicht, wer wir sind. Denn sie hat Gott nicht erkannt. Ihr Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir einmal sein werden, ist noch gar nicht sichtbar. Wir wissen jedoch: Wenn es offenbar wird, werden wir Gott ähnlich sein. Denn dann werden wir ihn sehen, wie er ist.“

Die Begabungen und Fähigkeiten eines kleinen Kindes entwickeln sich nach und nach. So stehen die Gottes Kinder von Anfang an unter Gottes Verheißung der Liebe – auch wenn wir noch nicht vollkommen sind. Aber wir heißen Kinder Gottes, und „wir sind es auch“, wie Martin Luther übersetzt – trotz allem.
Mit dieser Beschreibung begegnet der Predigttext verschiedenartigen Spannungen: der Spannung zwischen Diesseits und Jenseits, der Spannung zwischen den Gläubigen und den Kritikern, der Spannung der Verheißung und der Erfüllung.
Wenn ich das Bild des Schon-Jetzt und Dann-erst-Recht weiterverfolge, dann folgen wir den Pfaden der Bibel. Das Bild vom Kind in der Krippe, das als Erwachsener Großes bewegt. Das Bild vom Reich Gottes, das als Senfkorn ganz klein beginnt und aus dem etwas Großes erwächst.

Diese Bilder der Bibel machen mir Mut. Gerade in diesem Jahr, an diesem Weihnachtsfest. Die Verheißung vermag auch in unsere Wirklichkeit hineinzusprechen. Sie gibt mir Hoffnung in meinen Sorgen um die Gesundheit so vieler Menschen. In den Problemen der Welt. In der Verzweiflung und im Elend, in dem so viele Menschen leben. Wir sind Gottes Kinder – und wir können heranwachsen, so dass alle die Ähnlichkeit sehen. Deshalb feiern wir Weihnachten.
„Seht doch, wie groß die Liebe ist, die der Vater uns geschenkt hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es tatsächlich.“
Amen.

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